Alaa Abd El-Fattah und die Menschenrechte in Ägypten
Revolutionäres Potpourri

Gerade erst wurde Alaa Abd El-Fattah, Ägyptens wohl prominentester Demokratieaktivist, erneut zu jahrelanger Haft verurteilt. Dennoch ist von ihm ein Buch mit wegweisenden Texten erschienen, in denen er die tragische Geschichte des Landes seit dem Arabischen Frühling analysiert. Jannis Hagmann hat das Buch für Qantara.de gelesen.

Es gibt einen einfachen Trick, die Wahrheit zu verzerren, schrieb einst der palästinensische Autor Mourid Barghouti: Fange nicht am Anfang an, sondern beginne deine Geschichte mit dem, was danach passiert. Fange an mit den Pfeilen der Indigenen und die Weißen mit ihren Schusswaffen werden die Opfer sein. Fange an mit "zweitens" und schon wird es Gandhi sein, der für die Tragödien der britischen Kolonialmacht verantwortlich ist. Wer dagegen die Wahrheit anstrebe, müsse vorn ansetzen in der Geschichte.

Freilich ließe sich lange streiten, was der Anfang einer historischen Entwicklung ist. Ist es etwa der Militärputsch von 2013, der in Ägypten zur autoritären Herrschaft von Abd El-Fattah El-Sisi führte? Oder die ägyptische Revolution im sogenannten Arabischen Frühling zwei Jahre zuvor? Oder noch zuvor das repressive Regime, das die Menschen in Ägypten jahrzehntelang unterjochte, das seinerseits wieder auf die britische Kolonialherrschaft folgte?

Der ägyptische Aktivist und Links-Intellektuelle Alaa Abd El-Fattah stört sich jedoch aus anderem Grund an Barghoutis Appell: „Mourid Barghouti fordert uns auf, die Geschichte nicht in der Mitte zu beginnen, aber einige Ereignisse zwingen uns, mit ihnen anzufangen“, schreibt er in der nun auf großzügigen 450 Seiten in Buchform veröffentlichten Sammlung seiner Texte („You have not yet been defeated“, Fitzcaraldo Editions, Oktober 2021).

Für Abd El-Fattah ist ein solches Ereignis der 14. August 2013. Alles davor, alles danach verblasse neben jenem Tag, der Geburtsstunde der heutigen Militärdiktatur in Ägypten. "Ein neuer Ausgangspunkt wurde uns auferlegt", schreibt Abd El-Fattah, "von nun an werden wir mit dem größten Massaker unserer Geschichte leben müssen."

An jenem Mittwoch töteten Sicherheitskräfte mehr als 800 Menschen, vielleicht über tausend, als sie in Kairo zwei Protestcamps auflösten. Als Rabaa-Massaker ist der 14. August in die Geschichte eingegangen, benannt nach einem der Lager. In einem Außenbezirk Kairos hatten Anhängerinnen und Anhänger der Muslimbruderschaft gegen den Militärputsch und die Wiederherstellung der Diktatur nach der Revolution von 2011 demonstriert. Unter Führung des heutigen Präsidenten setzte die Putschführung dem Aufstand ein Ende. "Die meisten von uns leugnen es, viele reden sich ein, dass dies notwendig war, aber die Zahl und die Körper der Märtyrer verurteilen uns alle", schreibt Abd El-Fattah, "wir werden es niemals vermögen, Rabaa zu entkommen."

Kein Freund des islamistischen Projekts

Wer meint, aus dieser Solidarität mit den islamistischen Opfern Sympathie für die Muslimbrüder herauszulesen, irrt. Abd El-Fattah lässt keinen Zweifel an seiner persönlichen, freiheitlich begründeten Ablehnung des islamistischen Projekts, doch weigert er sich, seinen politischen Gegner, den er mit dem Militärregime teilt, zu entmenschlichen. "Die Dämonisierung der islamistischen Bewegung zu dulden, sie zu verleumden, sie als 'Schafe' zu bezeichnen, all dies ebnete den Weg zu dem Massaker." So schwer es falle, das Leid der anderen anzuerkennen, so unerlässlich sei es. „Ihre Ideologie ist eine Katastrophe“, schreibt er über die Islamisten, aber „sie werden unterdrückt und wir müssen über den Missbrauch gegen sie sprechen."

Cover of Alaa Abd el-Fattah's "You have not yet been defeated" (published in English by Fitzcarraldo Editions)
Der Traum von einem Leben in Freiheit und Würde im eigenen Land lebt: In seinem Buch „You have not yet been defeated“ beweist sich Alaa Abd El-Fattah als genauer politischer Beobachter, „der wie kein anderer Ägyptens tragische Geschichte seit dem Arabischen Frühling dokumentiert und analysiert hat, der aber nicht nur tief ins Innere der eigenen Gesellschaft blickt, sondern auch über den nationalen Tellerrand hinaus“, schreibt Jannis Hagmann in seiner Rezension für Qantara.de

Dabei hat Abd El-Fattah genug eigenes Leid zu berichten: Von kurzen Phasen abgesehen ist der vielleicht prominenteste Tahrirplatz-Aktivist, mittlerweile 40 Jahre alt und Vater eines Sohnes, seit 2013 weggesperrt geblieben – was ihn in die Lage versetzt, detailliert aus dem Innern der ägyptischen Folterknäste zu erzählen: "Die grausamste Form der Demütigung", schreibt er, "ist die sogenannte Ehrenwache, bei der neue Häftlinge zwischen zwei Reihen von Polizisten hindurchkriechen müssen, die sie mit Tritten, Schlägen und Beschimpfungen traktieren." Ziel sei es, dem Gefangenen die völlige Akzeptanz eines Lebens ohne Willen aufzuzwingen, wobei sich der Grad der Demütigung an der Klassenzugehörigkeit orientiere: "Wenn du als schutzlos eingestuft wirst, bist du vom ersten Moment an extremer Demütigung und Gewalt ausgesetzt. Die Intensität der Demütigung wird mit der Zeit abnehmen, aber der Schrecken dieser ersten Tage wird nie verblassen."

Da Abd El-Fattah auch aktuell im Gefängnis sitzt, haben Freunde und Familie seine Schriften zusammengetragen und im Buch chronologisch (2011 bis 2021) geordnet. Herausgekommen ist ein Potpourri an Textformen: Gefängnisbriefe stehen neben einzelnen Tweets oder Facebookposts, Zeitungsartikel neben transkribierten Reden oder Interviews.

Heute noch erhellend sind seine frühen Gedanken zur Revolution. Sie offenbaren einen Geist, der weit über den einfachen Regimegegner hinausgeht. Abd El-Fattah gräbt tief. Da geht es etwa um U-Bahnfahrer, die einen Streik androhen, um ihre Solidarität mit den Eisenbahnern auszudrücken. "Der Solidaritätsstreik ist das Gefährlichste, mit dem das Regime konfrontiert ist", analysiert er. "Wenn ein Arbeiter für die Forderung anderer streikt, weil er sich bewusst ist, wie ihre Situationen miteinander zusammenhängen, dann ist das die Politisierung der Arbeiterbewegung, die wir brauchen."

Bemerkenswert ist ein Artikel von 2011, kurz nach der Revolution, in dem Abd El-Fattah Lehren aus dem südafrikanischen Freiheitskampf für Ägyptens Verfassungsprozess herausarbeitet. Wie dem Begriff der Revolution, die über eine Transformation des politischen Systems hinausgehe und eine revolutionäre Identität erfordere, gibt er auch dem der Verfassung einen identitären, prozessualen Charakter. "Als erstes müssen wir die Idee über Bord werfen, dass eine Verfassung zu entwerfen eine einfache Aufgabe ist, die ein paar Experten schnell erledigen können." Südafrika sei einen mühsamen Weg der politischen Bewusstseinsbildung gegangen.

Abd El-Fattah schildert, wie in Südafrika tausende Freiwillige durch das Land reisten, bevor der Congress of the People 1955 die berühmte Freiheitscharta beschloss. Die Aktivistinnen und Aktivisten hörten sich an, was die einfachen Menschen zu sagen hatten, und weiteten den Kampf gegen die Apartheid nach und nach auf soziale und ökonomische Themen aus. Die Freiheitscharta wurde zunächst eine Art Satzung der Anti-Apartheid-Bewegung, bevor sie vier Jahrzehnte später zur maßgeblichen Referenz für die heutige südafrikanische Verfassung wurde.

In Ägypten kam es bekanntlich anders. Ein "Sozialvertrag", der Teil der ägyptischen Identität hätte werden können, blieb aus. Die Militärführung peitschte in der polarisierten Atmosphäre nach dem Rabaa-Massaker ein Dokument durch, das von einer gesellschaftlich breit zusammengesetzten  verfassungsgebenden Versammlung entworfen und 2014 per Referendum angenommen wurde. Abd El-Fattahs Skepsis gegenüber der Legitimationskraft repräsentativ-demokratischer Systeme zeigt sich, wenn er kommentiert, er habe Angst, dass die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Wahlurne ende. „Die Eliten denken, es sei ihr Recht, gewählt zu werden, und verwechseln dabei manchmal die Rolle eines gewählten Vertreters mit der eines Vormunds des Volkes.“

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