Marokkos letzte Geschichtenerzähler

Die Kunst des Geschichtenerzählens ist seit jeher ein fester Bestandteil der arabischen Kultur. Doch ihr Erbe und künftiges Fortbestehen ist in Gefahr. Der Filmemacher Thomas Ladenburger hat sich auf die Reise in die Welt der marokkanischen Erzähler begeben und präsentiert einen faszinierenden Einblick in das immaterielle Erbe der Menschheit. Von Melanie Christina Mohr

Von Melanie Christina Mohr

Seit seinem zehnten Lebensjahr verbringt Abderrahim El Makkouri seine Zeit auf dem Jemaa el Fna, dem berühmten pulsierenden Platz in Marrakeschs magischer Mitte. Für die Halqa – den Kreis der Zuschauer – erzählt er Geschichten, die über Generationen von Geschichtenerzählern weitergegeben wurden und die Tradition und Magie ganz Marokkos vereinen und transportieren.

Um diese Kulturtradition zu würdigen und ihren Erhalt zu manifestieren, erklärte die UNESCO das künstlerische Schaffen auf dem Jemaa el Fna im Mai 2001 zum "Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit". Aber wie in vielen anderen Ländern auch, steht die nicht institutionalisierte Kunst Marokkos auf wackligen Beinen.

"Junge Künstler geben sich nicht mehr mit ein paar Dirham zu Frieden", erklärt Abderrahim El Makkouri. "Das Leben in Marokko hat sich, wie anderswo auch rasant verändert, die Bedingungen heute sind nicht mehr die Bedingungen von damals. Wenn der Staat nicht endlich damit anfängt, die Kunst des Geschichtenerzählens aktiv zu unterstützen, wird es die marokkanischen Erzähler auf dem Jemaa el Fna bald nicht mehr geben."

"Es geht nicht darum sich in die Gunst der Touristen zu erzählen. Die meisten sprechen ohnehin kein Arabisch." Die Geschichtenerzähler auf dem Jemaa el Fna fabulieren nicht selten in zügigem Tempo, jedoch immer in marokkanischem Dialekt zu ihrem lokalen Publikum, das bereit ist, sich Abend für Abend auf dem beleuchteten Platz einzufinden, um mit Spannung die Fortsetzung der Geschichte vom Vortag zu genießen.

Im Kreis der Halqa

Im Jahr 2000 reiste der Filmemacher Thomas Ladenburger nach Marokko. Durch vorangegangene Projekte war seine Interesse an der Vielfältigkeit und dem Reichtum der arabischen Literatur geweckt und damit seine Faszination für die Geschichtenerzähler. Innerhalb der darauffolgenden eineinhalb Jahre begleitete er unter anderem Abderrahim El Makkouri, einer der letzten Geschichtenerzähler Marokkos und entführte seine Zuschauer in die innige Welt von Vater und Sohn, in der die Kunst des Erzählens das Bindeglied und das familiäre Narrativ das Erbe verkörpert, welches der Vater seinem Sohn hinterlassenwird.

Die Dreharbeiten benötigten ihre Zeit. Schnell bemerkte Thomas Ladenburger, dass es Geduld und das Vertrauen der Halaiqis bedurfte, um die Welt der Halqa auf dem Jemaa el Fna einem größeren Publikum präsentieren zu können.

Der Geschichtenerzähler Abderrahim El Makkouri; Foto: © Thomas Ladenburger
Der Geschichtenerzähler Abderrahim El Makkouri

"Ich wollte die Gunst der Stunde nutzen", erzählt Ladenburger. "Ich hatte glücklicherweise einen Tonmann aus Casablanca, einen ganz fantastischen Typ, der nicht nur aufgenommen hat, sondern auch übersetzen konnte. Insgesamt waren wir ein kleines Team von gerade einmal drei Leuten. Später habe ich nicht nur die Geschichtenerzähler, sondern auch die Vielfalt der anderen Performer auf dem Platz gefilmt, um das Leben und die Leidenschaft hinter ihren Darstellungen zu beleuchten."

Für Thomas Ladenburger ist der Jemaa el Fna das "Konzentrat der marokkanischen Kultur": "Wenn du in eine Halqa hineinspringst, kommst du an einem anderen Punkt im Land wieder heraus. Denn jede Halqa bezieht sich auf einen Heiligen, der irgendwo in Marokko seinen Marabu hat – einen islamischen Heiligen aus der Tradition der Mystik – und so gibt es ganz starke Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Orten Marokkos und den verschiedenen Halqas auf dem Jemaa el Fna. Das fand ich interessant und daraus sind dann sehr viele Porträts entstanden."

Eines dieser faszinierenden Porträts erzählt die Geschichte eines Halaiqi, der zum Klang der Geigen tanzend, gehüllt in Frauenkleidern sein tägliches Brot verdient.  

Die Virtuelle Halqa

Neben dem eindrucksvollen Dokumentarfilm "Al Halqa - die letzten Erzähler aus Marokko" und einer erfolgreichen Ausstellung im vergangenen Herbst im Ethnologischen Museum Dahlem in Berlin hat Thomas Ladenburger außerdem ein Virtuelles Museum geschaffen, das den Versuch verkörpert "ein kollektives Gedächtnis zu schaffen, beziehungsweise zu wahren und die Leute dazu einlädt ihre eigenen Geschichten zu erzählen und diese auch mit Anderen im Netz zu teilen."

Mit Hilfe überwältigender Fotografien, einem reichen Repertoire an ausgewählten Audios und Filmmaterial über die historische Geschichte des Platzes, ist es dem Filmemacher gelungen, einem breiten Publikum die marokkanische Kunst auf dem Jemaa al Fna durch eine virtuelle Tür zu erschließen.

"Schaut her: Das ist marokkanische Kunst!"

Für Ladenburger ging es bei seiner Arbeit unter anderem darum, den Stellenwert der Kunst und ihrer Akteure hervorzuheben. "Was erst einmal verstanden werden muss ist, dass die Kunst des Geschichtenerzählens ein wichtiges Kulturerbe ist", hält Thomas Ladenburger fest.

"Zur Zeit meiner Dreharbeiten war es so, dass die Geschichtenerzähler vom überwiegenden Teil der marokkanischen Bevölkerung nicht als wirkliche Künstler anerkannt wurden. Zumindest nicht auf höherer Ebene. Die Intention meines Projektes konzentriert sich darauf, die Halaiqis im Allgemeinen und die Geschichtenerzähler im Besonderen in einen Kontext zu bringen und den Stellenwert ihrer Beiträge hervorzuheben."

Geschichten erzählen ist nicht gleich Geschichten erzählen. Es ist eine Kunst, die der Übung, Ausdauer und Leidenschaft bedarf. "Die ersten Geschichten habe ich von meiner Großmutter gehört", erinnert sich der Geschichtenerzähler Abderrahim El Makkouri und fügt hinzu:

"Als ich noch zur Schule ging, führte mich mein täglicher Weg über den Jemaa el Fna. Dort habe ich Geschichtenerzähler getroffen, die andere Geschichten erzählt haben als meine Großmutter, die länger gedauert haben. Es waren Geschichten über Liebe, Abenteuer und Magie. Das hatte mich dermaßen fasziniert, dass ich unbedingt die Geschichten der Älteren auf dem Platz lernen wollte. Als Jugendlicher flossen die Geschichten nur so durch meine Adern. Geld hat für mich keine Rolle gespielt. Meine oberste Priorität war, mir einen Namen auf dem Jemaa el Fna zu machen und diesen Platz gegen die alt eingesessenen Halaiqis zu verteidigen. Ich erinnere mich, wie ich den damals den weiten Weg nach Fez auf mich nahm, um die Geschichte eines Erzählers auswendig zu lernen, von der mir gesagt wurde, dass sie die Menschen unaufhaltsam in ihren Bann ziehen würde. Dieses glückliche Ereignis sicherte mir meinen Platz auf dem Jemaa al Fna und die Anerkennung im Kreis der Geschichtenerzähler."

Melanie Christina Mohr

© Qantara.de 2016