Tunesiens Sufi-Ikone als frühe Frauenrechtlerin

Die Sufi-Heilige Aicha Manoubiya, bekannt als Saida oder Lella Saida, nimmt einen besonderen Platz in den Erinnerungen und Herzen der Menschen in Tunis ein. Sie war ein Freigeist und setzte sich über die herrschenden gesellschaftlichen Zwänge hinweg, denen Frauen im 13. Jahrhundert ausgesetzt waren. Von Safa Belghith

Von Safa Belghith

Im Gouvernement Manouba, westlich von Tunis, steht der Schrein von Aicha Manoubiya ein historisches und kulturelles Wahrzeichen der Stadt. Ein Platz, um einander zu begegnen, zu musizieren und zu feiern. Die Besucher essen, plaudern und genießen die volkstümlichen Lieder, die die Heilige loben und ihre Tugenden besingen.

Als ich den Schrein betrat, sagte man mir, ich solle mit Tante Zaziya sprechen, einer alten Frau, die dort in einem der Räume lebt. Vor ihrer Tür warteten bereits mehrere Menschen. Einige Zeit später ging ich hinein und setzte mich, während sie in einem schlichten Raum zu Mittag aß, umgeben von Geschenken ihrer Besucher.

Die Süßigkeiten verschenkte Tante Zaziya weiter, die Lebensmittel behielt sie. Zum Dank segnete sie ihre Besucher im Namen von Lella Saida. Sie berichtete mir von Paaren, denen nach jahrelangen erfolglosen Versuchen ein Kind geschenkt wurde, und von Frauen, die dank des Segens der Heiligen noch im hohen Alter heiraten konnten. Darüber, wer diese angesehene und verehrte Frau war, wollte mir Tante Zaziya aber nur ungern mehr erzählen.

Allerdings hatte ich Gelegenheit, mit einigen der Frauen vor Ort zu sprechen und ihre Geschichten zu hören. Die 25-jährige Amira findet im Heiligtum "inneren Trost".

Die weise und gute Frau, die den Armen half

Näheres über Saidas Herkunft, ihre Lebensgeschichte oder den Sufismus im Allgemeinen wusste sie jedoch nicht. Andere regelmäßige Besucherinnen sprachen von Saida Manoubiya als einer "weisen und guten Frau, die den Armen half". Über ihr Wirken war Ihnen jedoch nichts Konkretes bekannt.

Straßenschild in Tunis benannt nach der Sufi-Ikone Saida Manoubiya; Foto: Sami Mlouhi [CC BY-SA 4.0  (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]; Wikimedia Commons
Verehrt als "Imam der Menschen": Aichas Spiritualität und ihre Taten berührten das Leben der Menschen in einer Weise, die sie zur Heiligen erhob. Ihr wurden übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben, die im sunnitischen Islam als "Karamat" bezeichnet werden.

Diese Unwissenheit steht in auffälligem Widerspruch zu den Lehren von Saida Manoubiya selbst, ihrer Lebensweise und den Gründen, warum sie als eine der bedeutendsten Frauen Tunesiens gefeiert wird.

Aicha Manoubiya wuchs in Tunis in der Ära der Hafsiden-Dynastie im 13. Jahrhundert auf. Schon früh zeigte sich ihre außergewöhnliche Intelligenz und Eingebungskraft. Ihr Vater war Koranlehrer. Er förderte ihre Ausbildung, indem er ihr Arabisch beibrachte und sie im Koran unterrichtete. Als Angehörige der Berber war ihre Muttersprache nämlich Amazigh.

Ganz offensichtlich entsprach Aicha nicht dem üblichen Bild einer jungen Frau. Sie war ein Freigeist, eine charismatische Person, die sich nicht an Zwänge hielt, denen Frauen ihrer Zeit unterworfen waren. Doch genau das weckte das Misstrauen der Dorfbewohner. Ihr Vater wurde für ihre untypische Haltung oft kritisiert.

Als Aicha erfuhr, dass sie mit einem Verwandten verheiratet werden sollte, weigerte sie sich und beschloss, wegzuziehen. Ein solcher Schritt ist selbst im heutigen Tunesien noch verpönt, geschweige denn im 13. Jahrhundert. Als sie Manouba in Richtung Tunis verließ und ihr bisheriges Familienleben aufgab, brach Aicha nicht nur aus der Enge einer lieblosen Ehe und den traditionellen sozialen Zwängen aus. Sie strebte vielmehr nach Freiheit, finanzieller Unabhängigkeit und Bildung.

Dem Historiker Abdel Jalil Bouguerra zufolge war Bildung in jener Zeit nur bestimmten Frauen vorbehalten: Ausländerinnen aus dem Maschrek (im heutigen Nahen Osten) oder aus Al-Andalus (dem damals muslimischen Teil der Iberischen Halbinsel) oder den hochrangigen Frauen der herrschenden Geschlechter. Auf Aicha traf nichts davon zu.

Die Bedeutung Ibn al-ʿArabīs für Aicha

Als sie sich in Montfleury niederließ, verdiente sie ihren Lebensunterhalt zunächst mit Stricken und Spinnen. Doch schon bald wurde sie Schülerin von Abu al-Hasan al-Shadhili, einem der wichtigsten Gelehrten seiner Zeit und ein Anhänger der Sufi-Schule von Ibn al-ʿArabī.

Bild des Philosophen Muhyiddin Ibn al-ʿArabī; Quelle: Arab48
Als Aicha sich in Montfleury niederließ, wurde sie Schülerin von Abu al-Hasan al-Shadhili, einem der wichtigsten Gelehrten seiner Zeit und ein Anhänger der Sufi-Schule von Ibn al-ʿArabī – eine umstrittene, aber einflussreiche Persönlichkeit in der islamischen Geschichte. Ibn al-ʿArabī war davon überzeugt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind.

Ibn Arabi, eine umstrittene, aber einflussreiche Persönlichkeit in der islamischen Geschichte, war davon überzeugt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Ausführlich berichtete er über die verschiedenen Lehrerinnen, die sein spirituelles Wissen geprägt hatten. Es verwundert nicht, dass sich Aicha für diesen Sufi-Orden entschied.

Aicha widersetzte sich weiterhin den sozialen Maßstäben ihrer Zeit. Sie studierte den Koran und wollte ihn bewusst auslegen, um seine Botschaften besser verstehen zu können. Ihr Weg zum Glauben führte über kritisches Hinterfragen. Sie verließ ihr Haus ohne einen männlichen Begleiter und traf sich sogar mit Männern, um zu predigen und zu debattieren. Dies soll einige Scheichs schließlich dazu veranlasst haben, ihre Steinigung zu fordern.

Doch sie studierte eifrig weiter, bestand ihre Prüfungen und stieg schnell von einer Schülerin zur Lehrerin auf. Ihre Debatten mit ihrem Mentor, Al-Shadhili, wurden zur Attraktion für Sufi-Gelehrte und Regenten.

Zu jener Zeit war es bereits ein beeindruckender Kraftakt, überhaupt eine solche Ausbildung zu durchlaufen. Aber eine aktive Tätigkeit als Islamgelehrte war eine noch größere Leistung, zumal dieser Bereich seit jeher von Männern dominiert wurde.

Aicha nahm ihren legitimen Platz als führende religiöse Persönlichkeit in Tunis ein und hatte Zugang zu den höchsten theologischen Kreisen. Sie begleitete ihren Mentor zu verschiedenen sakralen Stätten, was nur privilegierten Sufis vorbehalten war. Sie zählte zum engsten Kreis von Prinz Abou Mouhamad Abdel Wahed und später von Sultan Abu Zakariya. Sie erhielt Zugang zu Gebetsstätten, die bisher nur Männer betreten durfte, wie beispielsweise zur Moschee Mousalla Al-Idayn, die Abu Zakariya im Jahre 1229 erbauen ließ.

In der Moschee von Safsafa (der heutige Schrein von Sidi Abdallah Cherif) überraschte und entzückte Aicha die Gläubigen. Eine so eloquente Vortragsweise und ausgefeilte Sprache kannte man damals nur von angesehenen männlichen Gelehrten.

Hilfe für die Armen und Ausgegrenzten

Der Schrein von Aicha Manoubiya westlich von Tunis; Foto: Safa Belghith
Oase der Spiritualität und des Gedenkens an 'Lella Saida' Manoubiya: Im Gouvernement Manouba, westlich von Tunis, steht der Schrein von Aicha Manoubiya ein historisches und kulturelles Wahrzeichen der Stadt. Ein Platz, um einander zu begegnen, zu musizieren und zu feiern. Die Besucher essen, plaudern und genießen die volkstümlichen Lieder, die die Heilige loben und ihre Tugenden besingen.

Neben ihren wissenschaftlichen und religiösen Fähigkeiten zeichnete sich Aicha als Philanthropin aus, die alles, was sie nicht für ihren Lebensunterhalt benötigte, an die Armen weitergab, vor allem an bedürftige Frauen. Historisch belegt ist, dass sie mehrere tunesische Sklaven kaufte und nach Italien schickte, wo sie freigelassen wurden. Und dies sechs Jahrhunderte vor der offiziellen Abschaffung der Sklaverei in Tunesien im Jahr 1846.

Als Al-Shadhili Tunesien verließ, reichte er Aicha seinen Umhang und seinen Ring, verlieh ihr in einer offiziellen Zeremonie den Titel Qutb und nannte sie einen "Imam der Menschen". Qutb, bedeutet wörtlich "Pol" oder "Achse" und markiert den höchsten spirituellen Rang im Sufismus. Und tatsächlich war Aicha zeit ihres Lebens und darüber hinaus ein Pol des Wissens und der Theologie.

Ihre Spiritualität und ihre Taten berührten das Leben der Menschen in einer Weise, die sie zur Heiligen erhob. Ihr wurden übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben, die im sunnitischen Islam als "Karamat" bezeichnet werden. Man erzählt sich, dass ihr Vater ihr einst einen Ochsen als Arbeitstier für die Landwirtschaft schenkte. Statt ihn selbst zu nutzen, gab sie ihn als Schlachttier an die Armen weiter und bat diese, ihr die Knochen zurückzugeben. Nachdem sie die Knochen zurückerhalten hatte, erwachte der Stier wieder zum Leben.

Abseits aller Überlieferungen ist eines sicher: Sie war eine unabhängige und einflussreiche Frau, die die sozialen Zwänge überwinden konnte und sich als gleichberechtigt, wenn nicht gar als intellektuell überlegen erwies. Mit ihrer Forderung nach Bildung und Freiheit für Frauen war Saida Manoubiya eine Feministin, die ihrer Zeit weit voraus war.

Safa Belghith

© Open Democracy 2018

Safa Belghith ist Absolventin der Universität von Tunis El Manar. Sie ist freie Wissenschaftlerin mit den Schwerpunkten tunesische Politik, Frauenrechte und Medienreform.

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers