Blutiger Tag in Kairo

Ägyptische Sicherheitskräfte gehen bei der Räumung von Protestlagern gewaltsam gegen Mursi-Anhänger vor. Die Lage ist unübersichtlicht, es gibt Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Trotz der brutalen Gewalt wollen die Anhänger Mursis nicht aufgeben. Einzelheiten aus Kairo von Karim al-Gawhary

Von Karim El-Gawhary

„Militärchef Sisi ist ein Mörder. Er ist ein Mörder“, schreit eine Frau hysterisch, die aus dem Protestlager in Rabaa Adawiya im Osten Kairos kommt. Dann setzt sich sie auf eine Parkinsel und hört nicht mehr auf zu schluchzen. Drinnen sind Tränengasgranaten zu hören, die fast im Minutentakt abgeschossen werden.

Immer wieder ist das Peitschen von Gewehrschüsse auszumachen. Das Militär hat einen dieser vielen Eingänge zum Lager mit einem gepanzerten Fahrzeug abgesperrt. Der Soldat am Maschinengewehr sieht stoisch in eine kleine Menge von mehreren Demonstranten, die „Nieder mit der Militärherrschaft!“ rufen. Dann fliegen die ersten Tränengasgranaten. Die Menge wird zerstreut, um sich kurz darauf wieder zusammenzufinden, als die ersten Verletzten aus dem Lager getragen werden. 

Immer wieder kommen Krankenwagen, die von den Militärs durchgelassen werden. Sie fahren in die Richtung zum Hauptplatz, dort, wo mehrere schwarze Rauchwolken aufsteigen. „Ich schwöre vor jedem Polizisten in diesem Land, dass wir uns verteidigen werden und dass wir euch rächen werden“, schreit ein aufgebrachter Demonstrant.

Die Räumung begann um sieben Uhr morgens, als die Sicherheitskräfte zwei Protestlager in Kairo stürmten. Das kleinere der beiden vor der Kairoer Universität war innerhalb von drei Stunden geräumt.

Anzahl der Toten unklar

"Ich habe meinen Rücktritt eingereicht, weil ich nicht die Verantwortung für Entscheidungen tragen kann, mit denen ich nicht einverstanden bin", erklärte Vizepräsident ElBaradei bei seinem Rücktritt.

Am Mittag räumten Bulldozer die Überreste des Lagers weg. Die Räumung des größeren Camps vor der Rabaa Adawiya-Moschee dauerte bis zum Redaktionsschluss an. Eine kleine Gruppe von Demonstranten harrt immer noch vor dem großen zentralen Podium aus, während ein Redner Durchhalteparolen ins Mikrophon ruft. „Wir werden alle als Märtyrer streben“, erklärt er.

„Die Sicherheitskräfte haben nur Tränengas auf die Demonstranten geschossen, obwohl sie von deren Seite unter Feuer gerieten“, heißt es in einer Erklärung des Innenministeriums.   Die wenigen Journalisten im Lager sprechen dagegen davon, dass Scharfschützen von umliegenden höheren Gebäuden auf die Demonstranten geschossen haben sollen.

Gehad El-Haddad, der Sprecher der Muslimbrüder, verbreitet über die Sozialen Medien ein Video, das einen der Scharfschützen zeigen soll. Viele der Toten sollen durch Schusswunden umgekommen sein. Bisher wurde dieser Vorwurf aber noch nicht von unabhängiger Seite bestätigt.

Unklar ist, wie viele Menschen bei der Räumung umgekommen sind. Im Feldlazarett in Rabaa Adawiya haben Journalisten 94 Leichen gezählt. Die Muslimbrüder sprechen von hunderten Toten. Die offiziell herausgegebene Zahl ist wesentlich niedriger. Aus dem Gesundheitsministerium heißt es, es seien 13 Menschen umgekommen, darunter fünf Polizisten. Opferzahlen sind Teil des Propagandakrieges auf beiden Seiten.    

Die Pro-Mursi Anhänger haben ihre Proteste im Laufe des Tages dezentralisiert. Auch in anderen Teilen Kairos kam es zu Demonstrationen, die aber meist von den Sicherheitskräften im Keim erstickt wurden. Im Stadtteil Muhandiseen im Westen der Stadt versuchten Mursi-Anhänger einen neuen Sitzstreik zu formieren und wurden von der Polizei mit Schrotmunition angegriffen. Einer der dortigen Demonstranten fasste deren Taktik in einem Satz zusammen:  „Wenn ihr unseren Protest räumt, werden wir woanders einen neuen anfangen“.

Sperrung von Verkehrsmitteln

"Nach dem blutigen Tag in Kairo ist es aber für das polarisierte Land noch unwahrscheinlicher geworden, eine politische Lösung zu finden", kommentiert al-Gawhary.

Auch in anderen Teilen des Landes, wie in Alexandria und in den südägyptischen Städten Assiut, Beni Suef und Minya kam es zu Protesten. In Suez sollen fünf Menschen umgekommen sein, als Mursi-Anhänger mehrere Gebäude der staatlichen Verwaltung angegriffen haben. In der Oase Fayyoum kamen neun Menschen ums Leben, als sie versuchten, eine Polizeistation zu stürmen. Im Süden des Landes wurden auch drei Kirchen attackiert.

Der Zugverkehr nach Kairo wurde eingestellt. Damit soll offensichtlich verhindert werden, dass die Muslimbrüder ihre Anhänger von den Provinzen nach Kairo bringen. Auf politischer Ebene blieb es relativ ruhig. In einer kurzen Erklärung lies die Übergangsregierung verlauten, dass man mit harter Hand gegen alle Sabotageversuche gegen staatliche Institutionen reagieren werde, während das Recht auf friedliche Demonstrationen aufrechterhalten bleibe. Keine Seite dürfe auf dem weiteren demokratischen Fahrplan Außen vorgelassen werden, hieß es weiter.

Nach dem blutigen Tag in Kairo ist es aber für das polarisierte Land noch unwahrscheinlicher geworden, eine politische Lösung zu finden. Möglich ist auch, dass die Zusammenarbeit zwischen Militärs und ziviler Regierung Risse bekommt und einige der Minister ihren Rücktritt erklären. Vizepräsident ElBaradei ließ bereits seinen Rücktritt verkünden.

Mohamed El-Beltagi, einer der führenden Köpfe der Muslimbrüder, forderte die Bevölkerung auf, gegen den Militärputsch auf die Straße zugehen. Auch forderte er „ehrenhafte Militär- und Polizeioffiziere“ dazu auf, gegen den Militärchef Abdel Fattah El-Sisi Position zu beziehen. „Die Plätze Ägyptens werden sich in einen einzigen großen Sitzstreik verwandeln“, drohte er. An die internationale Gemeinschaft gerichtet, sagte er: „Wenn ihr nichts unternehmt, um diese Ereignisse zu stoppen, seid ihr Komplizen“.

Karim El-Gawhary

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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de