Zurück in die Vergangenheit 

Vor einem Jahr kamen in Kabul die Taliban wieder an die Macht, die USA und ihre Verbündeten flüchteten panikartig aus dem Land. Vier Bücher zum Thema stechen heraus. Von Tobias Matern

Von Tobias Matern

Braucht es sie noch, die vielen Worte, die dicken Bücher, um das Versagen des Westens in Afghanistan zu verstehen? Die Geschichte dieses gescheiterten Einsatzes ist eigentlich schnell erzählt. Die USA dürsten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nach Rache. Ihre Verbündeten ziehen mit in den Krieg, nicht das ferne Land am Hindukusch steht im Mittelpunkt des Einsatzes. Berlin wollte den Amerikanern "gefallen", wie ein Berater des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder später freimütig einräumen wird: "Die Entscheidung, nach Afghanistan zu gehen, hatte null Prozent mit Afghanistan zu tun und 100 Prozent mit den USA. Wenn Osama bin Laden sich auf den Fidschi-Inseln versteckt hätte, wären wir dahin mitgegangen." 

Von dem Land am Hindukusch verstehen alle Entscheidungsträger recht wenig, und die Experten, die vor den Clanstrukturen, den früheren gescheiterten Interventionen der Großmächte erzählen können und daraus abgeleitet davor warnen, wer Afghanistan mit einem westlichen Demokratiemodell beglücken wolle, sei zum Scheitern verurteilt - sie finden kein Gehör. 

20 Jahre später, im August 2021, geht die gedemütigte Supermacht USA wieder nach Hause, und mit ihr die Partner. In Kabul ist alles wie vorher: Die Taliban sind wieder an der Macht, mit gezückten Kalaschnikows im Palast des geflohenen Präsidenten. 

Ein Jahr nach diesem Desaster, das nach Schätzungen amerikanischer Universitäten 240 000 Menschen das Leben gekostet hat und für das allein die USA rund zwei Billionen US-Dollar ausgegeben haben, gibt es eine Reihe von Büchern, neu aufgelegte und neu geschriebene, die sich aus verschiedenen Richtungen mit dem Thema befassen, vor allem drei Kategorien fallen auf: wissenschaftlich/faktenbasierte Abhandlungen, Beobachtungen von Reportern und Ich-Erzählungen. 

Prognose: weiterhin weltweite Bedrohung 

In die erste Kategorie fällt der pakistanische Altmeister Ahmed Rashid, dessen "Taliban. Die Macht der afghanischen Gotteskrieger" (Verlag C.H. Beck 2022) auch in der aktualisierten Neuauflage den Goldstandard darstellt, wenn man die alten, neuen Machthaber in Kabul verstehen will. 

Cover von Ahmed Rashids Taliban. Die Macht der afghanischen Gotteskrieger Verlag C.H.Beck 2022; Quelle: Verlag
Ahmed Rashids Klassiker über die Taliban stellt auch in der aktualisierten Neuauflage den Goldstandard dar, wenn man die alten, neuen Machthaber in Kabul verstehen will, schreibt Tobias Matern. "Rashid arbeitet nüchtern und solide heraus, wie die Steinzeitislamisten, die das erste Regime (1996 - 2001) in Kabul führten, weitgehend abgelöst worden sind von einer neuen, jungen Generation der Taliban, "die tief gespalten ist in Bezug auf Bildung und die Strenge, mit der religiöse Pflichten zu befolgen sind". Der Experte sagt weitere Jahre voller Unruhen für das Land voraus, weil die Taliban-Herrscher nicht gewillt sein werden, sich zu mäßigen.“ 

Denn Rashid war bereits 1994 in Kandahar, als die damals noch weitgehend unbekannten Taliban sich anschickten, vom Süden Afghanistans aus fast das ganze Land zu übernehmen.

Rashid arbeitet nüchtern und solide heraus, wie die Steinzeitislamisten, die das erste Regime (1996 - 2001) in Kabul führten, weitgehend abgelöst worden sind von einer neuen, jungen Generation der Taliban, "die tief gespalten ist in Bezug auf Bildung und die Strenge, mit der religiöse Pflichten zu befolgen sind".

Der Experte sagt weitere Jahre voller Unruhen für das Land voraus, weil die Taliban-Herrscher nicht gewillt sein werden, sich zu mäßigen. 

Auch prognostiziert Rashid ein erneutes Abdriften Afghanistans, er sieht eine Art schwarzes Loch entstehen, wie es vor den Anschlägen auf die USA am 11. September bereits existiert hatte.

Die Taliban und ihre Brüder im Geiste der internationalen Terrororganisation al-Qaida "werden eine weltweite Bedrohung bleiben, solange die muslimischen Regierungen und der Westen den Extremismus nicht entschlossen bekämpfen und die Lösung der dringendsten Probleme in der Region - Armut, wirtschaftliche Misere, mangelnde Schulbildung und Arbeitslosigkeit - nur halbherzig oder gar nicht angehen". 

Finanzhilfe aus Washington gegen die Rote Armee 

Schon nach dem Abzug der Sowjetunion Ende der 1980er.Jahre vernachlässigten die Amerikaner die Region. Der von Washington im Kampf gegen die Rote Armee mit finanzierte Extremismus richtete sich später gegen die USA selbst.

Rashids Buch ist zwar nur sparsam überarbeitet, ein kurzes Vorwort zu den aktuellen Ereignissen nach der Machtübernahme der Taliban, ein paar Aktualisierungen im Text, eine auf den neuesten Stand gebrachte Zeittafel: Aber das genügt schon, um den Konflikt und die Macht der Taliban verstehen zu können, die sie zurück nach Kabul gebracht haben. 

Wem das auf 491 Seiten zu ausführlich ist, der kann sich auch mit Conrad Schetters und Katja Mielkes deutlich kompakterem Buch behelfen. Besonders lesenswert in ihrem "Die Taliban. Geschichte, Politik, Ideologie" (Verlag C.H. Beck 2022) sind außer der Analyse der verschiedenen Gruppierungen bei den Taliban die Passagen zum Update der Islamisten, wie sie von Barfußkriegern zu geschickten Twitter-Nutzern geworden sind, die ihre Propaganda schon lange auf Englisch unters Volk bringen. 

Das war, wie Schetter und Mielke beschreiben, "eng mit der Verfügbarkeit des Internets sowie der Ausbreitung und Popularität sozialer Medien" in Afghanistan verbunden. Diesen Schritt in die Moderne hat der Westen nach Afghanistan gebracht, nun wissen sich das die Taliban zunutze zu machen. Spannend sind auch die etwas knapp geratenen Schlussfolgerungen Schetters und Mielkes mit der Frage, ob die Taliban nach der erneuten Einnahme Kabuls bereits den Zenit ihres Erfolges erreicht haben. Oder zerfällt die Bewegung nun aufgrund "interner Differenzen"? 

Das erste Jahr ihres Regimes deutet vor allem darauf hin, dass sie den Schritt von der Guerillamiliz zu einer Regierung, die Ressourcen eintreiben und verteilen kann, noch nicht vollzogen haben. Darunter leidet, nach dem Wegfall westlicher Subventionen, vor allem die Bevölkerung. 90 Prozent der Afghaninnen und Afghanen leben nach UN-Angaben unter der Armutsgrenze. 

In der zweiten Kategorie, Reportage, fällt vor allem Wolfgang Bauers Buch "Am Ende der Straße. Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern" (Suhrkamp Verlag 2022) auf. Der Reporter bei der Zeit bereist seit Jahrzehnten das Land, das merkt man seinen Texten auch an. Seine Reise entlang der Afghanistan umspannenden Ringstraße zeigt: Hier ist ein mutiger Beobachter unterwegs, der auch das Risiko nicht scheut, um aus entlegenen Regionen zu berichten. Manchmal stellt sich der Autor zu sehr selbst in den Mittelpunkt, das hätten seine Ausführungen gar nicht nötig: "Ich trete diese Reise an, um zu verstehen, warum wir, nicht nur der Westen, mehr noch die Weltgemeinschaft, damit gescheitert sind: das Gute zu tun."

Was wäre eigentlich das richtige Kriegsziel gewesen? 

Ging es wirklich darum - "das Gute" zu tun? In Berlin war das ein gern verbreitetes Narrativ - für die Entwicklung Afghanistans, zum Wohle der afghanischen Frauen und Kinder. Also Brunnen und Schulen bauen, maximal ein mit Waffen abgesicherter Entwicklungshilfe-Einsatz? Deutschland hat sich in diesem Einsatz allerdings nie ehrlich gemacht. "Das Gute" in einem Krieg, heißt das, möglichst wenig zu kämpfen, wie die Bundeswehrsoldaten von ihrer Regierung mit auf den weiten Weg am Hindukusch mitbekommen haben? Oder hätte es nicht bedeuten müssen, mit politisch viel robusterem Mandat massiver zu kämpfen, als die Taliban ihren Einfluss in Kundus ausweiteten? Oder sich früher ehrlich zu machen, dass man diesen Krieg nicht gewinnen kann?

Chaotische Szenen bei der Evakuierung am Kabuler Flughafen; Foto: Associated Press/picture-alliance
Ikonisches Bild vom Scheitern des Westens: Auf einem der ersten Flüge (15.08.2021) nach der Machtübernahme der Taliban evakuierten die USA 640 Menschen in einer Transportmaschine der US Air Force nach Katar, 20 Jahre nachdem sie im Land einmarschiert waren. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 dürsteten die USA nach Rache. Ihre Verbündeten ziehen mit in den Krieg."Die Entscheidung, nach Afghanistan zu gehen, hatte null Prozent mit Afghanistan zu tun und 100 Prozent mit den USA. Wenn Osama bin Laden sich auf den Fidschi-Inseln versteckt hätte, wären wir dahin mitgegangen," räumte später ein Berater des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder ein. Von dem Land am Hindukusch verstehen alle Entscheidungsträger recht wenig, und die Experten, die warnen, wer Afghanistan mit einem westlichen Demokratiemodell beglücken wolle, sei zum Scheitern verurteilt - sie finden kein Gehör. 

Bauer zieht aus seiner Reise, die ihn auch mehrmals in das deutsche Einsatzgebiet im Norden des Landes führt, denn auch ein klares Fazit: "Aber nicht das Militär sollte in den nächsten Jahren scheitern, obgleich die Bundeswehr auf Afghanistan schlechtmöglichst vorbereitet war, die falsche Armee in allen möglichen Hinsichten, das blieb sie bis zu ihrem Abzug." Der Westen sei "mit seinen Zielen in Afghanistan nicht gescheitert, weil er militärisch scheiterte. Der Westen scheiterte, weil sein Konzept von Entwicklungshilfe scheiterte. Nicht Gewehrkugeln zerstörten die Vision eines demokratischen Afghanistan, sondern das Geld." 

In der Ich-Kategorie der Afghanistan-Bücher sticht vor allem Waslat Hasrat-Nazimis "Die Löwinnen von Afghanistan. Der lange Kampf um Selbstbestimmung" (Rowohlt Verlag 2022) hervor. Sie arbeitet als Journalistin für die Deutsche Welle, ihre Familie flüchtete aus Afghanistan nach Deutschland, als sie ein Kind war, und sie kann tatsächlich zwischen beiden Welten wandeln. Auch in der neuen Heimat werden in ihrer Familie die anhaltenden Konflikte am Hindukusch hitzig diskutiert. Als Jugendliche wünscht sich Hasrat-Nazimi nichts mehr, als endlich davon verschont zu werden. "Ihre Versuche, mir das politische Geschehen zu erklären, wischte ich genervt beiseite." 

Von "verlorener Kindheit" und Männlichkeit 

Dann beginnt sie sich intensiver mit ihrem Geburtsland zu beschäftigen, bereist es auch als Journalistin. Das ist nicht kitschig, aber sehr ehrlich, etwa wenn die Autorin ihr "vierjähriges Ich" beweint, das mit der Flucht aus Afghanistan "seine Kindheit verloren hatte, bevor diese überhaupt richtig angefangen hatte, und viel zu schnell erwachsen werden musste". Hasrat-Nazimi beschreibt das Patriarchat in einem Land, in dem der Begriff der Ehre gleichbedeutend mit "Männlichkeit" verwendet wird, und fehlgeleitete Hilfe für afghanische Frauen.

Sie hat keinen verklärenden Blick auf das Land, benennt die Ungerechtigkeiten, die dominierende Rolle der Mehrheitsethnie und den Webfehler des 20-jährigen westlichen Einsatzes: dass der Westen die Taliban zwar schnell stürzte, sie aber nicht gleich in Friedensgespräche einbezog, dass die Kriegsfürsten, die mit gegen die Taliban gekämpft hatten, nicht entmachtet, sondern in die westliche Nachkriegsordnung einbezogen wurden, dass Frauen "bei den ersten Gesprächen zum Wiederaufbau des Landes praktisch ausgeschlossen" wurden. 

Braucht es also diese Bücher? Ja. Jedes von ihnen hilft aus unterschiedlichen Perspektiven, das Scheitern des Westens am Hindukusch ein bisschen besser zu verstehen und Lehren für die Zukunft zu ziehen. 

Tobias Matern 

© Süddeutsche Zeitung 2022  

 

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