Ägypten nach dem Mursi-Putsch
Pogromstimmung gegen Demokraten

Für die Entmachtung Mursis bauten die ägyptischen Militärs die Muslimbruderschaft als übermächtige, dunkle Gefahr auf. Sie versetzten große Teile der Ägypter in einen Rausch, der von Rachegelüsten, Hetze und Häme geprägt ist. In diesem Taumel merken nur wenige, dass eine atemberaubende Umdeutung all dessen begonnen hat, was mit der Revolution zu tun hat. Ein Kommentar von Jürgen Stryjak

Es ist kaum vorstellbar, dass die obersten Muslimbrüder noch daran glauben, dass sie ihren gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi tatsächlich ins Amt zurück bringen können. Mit dem  von Volk und Militär herbeigeführten Sturz vor dreieinhalb Wochen und in dessen Folge wurden Tatsachen geschaffen, die so vollendet sind, dass man schon an pathologischem Realitätsverlust leiden muss, um sie zu übersehen.

Würde die Bruderschaft an ihre mittelfristige Zukunft denken, käme es ihr vor allem darauf an, nicht noch mehr Sympathien ihrer Landsleute zu verspielen. Stattdessen heizen die Prediger und Agitatoren der Bruderschaft die Stimmung ihrer Anhänger in den Protestcamps immer weiter auf. Es werden immer neue Maßnahmen ersonnen, denen die Bruderschaft das Etikett „ziviler Ungehorsam“ verpasst, die aber nichts weiter sind, als sinnlose Provokationen mit tragischen Folgen. Schlägerbanden oder  Sicherheitskräfte oder beide gemeinsam schlagen dann zurück und Tote sind zu beklagen – übrigens ausnahmslos in den Reihen des Muslimbrüder-Fußvolks, während ihre Führer mit immer größerem Zynismus die Opferrolle kultivieren.

“Gezielte Hinrichtung durch Sicherheitskräfte”

Straßenschlacht in Nasr City am 27. Juli 2013; Foto: Reuters
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte nach dem Massaker an Mursi-Anhängern am 27. Juli, dass rund 80 Prozent der Opfer mit gezielten Schüssen in Kopf und Brust erschossen wurden.

Mindestens 80 Mursi-Anhänger wurden im Morgengrauen des 27. Juli in der Nähe ihres Kairoer Protestcamps von Sicherheitskräften und Schützen in Zivil getötet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte nach dem Blutbad, dass rund 80 Prozent der Opfer mit gezielten Schüssen in Kopf und Brust erschossen wurden.

An jenem Samstag konnten Polizeibeamte in Uniform dabei beobachtet werden, wie sie auf Mursi-Anhänger zielten, ohne für sich selbst Deckung zu suchen. Es war offensichtlich, dass sie kein Gegenfeuer befürchteten. Human Rights Watch schreibt, es sei unvorstellbar, dass es ohne die Absicht zu töten so viele Tote gegeben hätte.

Schuld sind die Schützen bzw. ihre Befehlsgeber, aber die Muslimbruderschaft muss sich die Frage gefallen lassen, welche Verantwortung sie für sinnlose, tödliche Eskalationen trägt, die keinen einzigen Zweck erfüllen – außer dass Märtyrerfotos für ihre Propaganda entstehen.

Besonders seltsam aber ist, dass sich in der Führungsriege niemand zu fragen scheint, ob die Bruderschaft nicht allzu bereitwillig eine Rolle annimmt, die ihr auch zugedacht ist.

Kein demokratischer Neuanfang nach Mursi

Khayrat al-Shater, Kopf der Muslimbrüder; Foto: dpa
"Die Muslimbruderschaft muss sich die Frage gefallen lassen, welche Verantwortung sie für sinnlose, tödliche Eskalationen trägt, die keinen einzigen Zweck erfüllen – außer dass Märtyrerfotos für ihre Propaganda entstehen", schreibt Jürgen Stryjak.

Ende Juni hatten Millionen Ägypter das Gefühl, die Notbremse ziehen zu müssen. Sie wollten sich des Muslimbrüder-Regimes entledigen, weil sie – zu Recht, wie ich glaube – Angst hatten, dass sie es bei der nächsten Wahl Jahre später nicht mehr loswerden könnten. Die Armee stellte sich an die Seite des Volkes und setzte Mursi ab. Aber haben Armee und Volk wirklich dieselben Interessen?

Was nach Mursis Entmachtung geschah, kann kaum noch als demokratischer Neuanfang oder  als nachträgliche Korrektur der Revolution bezeichnet werden. Die Militärs bauten die Muslimbruderschaft als übermächtige, dunkle Gefahr auf, ganz wie zu Zeiten Mubaraks. Von den linientreuen Medien, also von derzeit fast allen im Land, werden ihre Anhänger nur noch „Terroristen“ genannt. Die Militärs versetzten große Teile des Volkes in einen Rausch, der von Rachegelüsten, Hetze und Häme geprägt ist.

In diesem chauvinistischen Taumel merken nur wenige, dass eine atemberaubende Umdeutung all dessen begonnen hat, was mit der Revolution zu tun hat. Die Generäle präsentieren sich nun als die obersten Revolutionäre. In ihrem Fahrwasser werden alle die Institutionen reingewaschen, die eben noch als Bastionen des Mubarak-Regimes galten: Polizei, Rechtsprechung, Wirtschaftselite, Staatsmedien, aber auch private TV-Sender, von denen sich die einflussreichsten im Besitz von Geschäftsleuten befinden, die unter Mubarak reich wurden. Alle diese Bastionen haben die letzten zweieinhalb Jahre nach seit der Revolution zum Teil in der Deckung, aber unbeschadet überstanden. Jetzt sind sie wieder voll da.

Stunden nach dem Blutbad vom 27. Juli verkündete Innenminister Mohammed Ibrahim – unter Mubarak verantwortlich für Ägyptens Gefängnisse –, dass etliche  jener Abteilungen des Staatssicherheitsdienstes bereits wieder arbeiten, die nach der Revolution abgeschafft worden waren. Einen Tag später warnte sogar die militärtreue Bürgerbewegung Tamarod, die die Millionenproteste vom 30.  Juni gegen Mursi initiiert hatte, vor einer Rückkehr des berüchtigten Staatssicherheitsapparates. Heba Morayef von Human Rights Watch hält die angebliche Abschaffung der Stasi Ägyptens im Jahre 2011 ohnehin nur für ein Täuschungsmanöver.

„Entweder mit oder gegen uns“ 

Liberaler Politiker Amr Hamzawy; Foto: dpa
Nachdem der liberale Politiker Amr Hamzawy die politische Atmosphäre im Land als faschistoid beschrieben hatte, brach auf ihn eine Welle von gehässigen Beschimpfungen ein.

Die Stimmung gegen die Muslimbruderschaft ähnelt – bei aller notwendigen Kritik an ihrer repressiven Absichten – jener Stimmung, die in den USA während der Amtszeit  von George  W. Bush herrschte, als es hieß: „Entweder mit oder gegen uns.“  Kritik, Skepsis und differenzierte Zwischentöne gelten per se als unpatriotisch. Der bekannte ägyptische Liberale Amr Hamzawy beschreibt die Atmosphäre bereits seit Wochen als faschistoid und warnt davor, dass Teile des derzeitigen Regimes den Schwung benutzten, um die ägyptische Revolution von 2011 ungeschehen zu machen.

Unter anderem dafür wird Hamzawy als „Verräter“ und „ausländischer Agent“ beschimpft.  Vor allem gegen Politiker und Aktivisten, die Mursi und das Militär gleichermaßen kritisieren, richtet sich eine regelrechte Pogromstimmung. Und selbst gegen Vizepräsident Mohammed ElBaradei  wird gehetzt, weil er dafür plädiert, die Islamisten auch weiterhin an den politischen Prozessen zu beteiligen. Es sollen, twitterte Amr Hamzawy jüngst, all jene zum Schweigen gebracht werden, die eine wirkliche Demokratisierung fordern.

Der 25. Januar 2011, der Tag, an dem die Revolution begann, war nicht zufällig der jährliche Ehrentag der ägyptischen Polizei. Von aller Willkür, die die Ägypter zornig machte, war es besonders die brutale Polizeiwillkür, unter der sie litten. Im Sommer 2013, nur zweieinhalb Jahre später, tragen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz Polizisten auf den Schultern und feiern sie. Einer der Sprechchöre lautet: „Volk, Militär und Polizei Hand in Hand.“

Um solch einen dramatischen Richtungswechsel hinzukriegen, mussten die Generäle das Volk auf das Böse schlechthin einschwören. Die Muslimbruderschaft eignet sich hervorragend für diese Rolle.

Jürgen Stryjak

© Qantara.de 2013

 

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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Leserkommentare zum Artikel: Pogromstimmung gegen Demokraten

Die vielen Vorwürfe, die Sie der Führer- und Mitgliederschaft der Muslimbruderschaft machen, sind z.T. realitätsfern oder überzogen.
Ihre Zeilen interpretiert, gäbe es die gleiche Qualität in der global geführten Diskussion um den Putsch, wären nicht so viele Menschen im Kugelhagel des Militärs gestorben - allerdings reicht ein kurzes Begrübeln um sehr schnell zu dem Schluss zu kommen, dass die Muslimbruderschaft und Mursis Wahlergebnis längst Geschichte wären, hätte es die Massaker und die andauernden Demonstrationen und Sit-In's nicht gegeben.
Die Welt spricht nur noch über Ägypten, weil über dem Land das Damoklesschwert weiterer drei- bis fünftausend Toten schwebt, mit denen nach offiziellen Einschätzungen bei einem Räumungsversuch zu rechnen wäre. Längst wäre die "Interimsregierung" fest installiert und würde im Hintergrund gnadenlose Säuberungsaktionen fahren.
Nach unserem Verständnis ist das Vorgehen der Bruderschaft und ihrer Unterstützer, sich ohne Waffen schießwütigen Putschisten in den Weg zu stellen, leichtsinnig und selbstmörderisch - und das ist es wohl auch, folgt jedoch der ebenso nüchternen wie erschütternden Erkenntnis, dass sich das Weltgetriebe nur durch Blut wenigstens vorübergehend anhalten lässt.
Oder würden Sie tatsächlich glauben, dass ohne all diese Demonstrationen und Sit-In's weltweit und in Ägypten selbst länger als zwei, vielleicht drei Tage über die Vorgänge diskutiert worden wäre? Registrieren Sie nicht auch, dass sich der Tenor in den Medien seit wenigen Tagen zu verändern beginnt und statt einem "Richtig so! Die Islamisten mussten weg!" auf einmal der Tenor: "Durfte man die demokratisch gewählte Regierung davonjagen? Und was ist das wirkliche Interesse des Militärs?" aufschimmert.
Mittlerweile haben über 200 Ägypter diesen Wechsel in der Wahrnehmung mit ihrem Leben bezahlt - ein sehr hoher Preis, aber zu einem geringeren war der Effekt wohl nicht zu haben.

M. Thomas13.08.2013 | 13:15 Uhr

"...und Tote sind zu beklagen – übrigens ausnahmslos in den Reihen des Muslimbrüder-Fußvolks, während ihre Führer mit immer größerem Zynismus die Opferrolle kultivieren."
Die Tochter von Khairat al-Shater und ihr Eheman, sowie die 17jährige Tochter von Muhammad el-Beltagy sollen sich und den heutigen Opfer befinden. Wenn der Rauch sich legt und der großteil der Opfer identifiziert wurde, dann wird man sehen wieviele es noch sind. Der Zynismus könnte sich dann in Richtung des Autors drehen.

Zirrar14.08.2013 | 14:18 Uhr