
ÄgyptenDie Revolution ist nicht gescheitert
Es gibt eine Szene im Film The Square, die den Zustand Ägyptens treffend beschreibt. Der Aktivist Ahmed Hassan läuft durch die Straßen Kairos, im Voiceover berichtet er vom Leben in der Diktatur. Würdelos sei dieses Leben und ungerecht, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Er erzählt von der Unterdrückung eines skrupellosen Regimes und dessen Diktator. "Das Regime", sagt Hassan, "hat schon immer gegen die Menschen gearbeitet, sie gefoltert, mit Elektroschocks gequält, aufs Übelste verprügelt."
Diese Unterdrückung durch einen Polizeistaat in Ägypten unter Diktator Abdel Fattah al-Sissi ist heute Alltag. Aber Hassans Bericht ist nicht von heute, er ist zehn Jahre alt. Hassan beschreibt genau das, was viele Ägypterinnen und Ägypter im Januar 2011 nicht mehr ertragen wollten – und was sie zu einer Revolution antrieb.
Der Dokumentarfilm The Square (dt. Der Platz), 2013 veröffentlicht, zeigt die Ereignisse der ägyptischen Revolution aus Sicht von Aktivistinnen und Aktivisten, darunter Ahmed Hassan. Der Film dokumentiert eine Zeit, in der sich Menschen von Tunis bis Sanaa gegen ihre Unterdrücker erhoben. Er ist eine Ode auf den Kairoer Tahrir-Platz, der zu einem Symbol geworden ist. Zu einem Symbol für den Mut jener, die sich friedlich für ein besseres Ägypten einsetzten und dafür einen hohen Preis zahlten. Hassan sagt in dem Film, er sei überwältigt gewesen, als er auf die Straße ging: "Alle empfanden das, was ich auch empfand."
Der Film zeigt dann, wie Zehntausende Frauen und Männer auf den Tahrir strömen, sie rufen: "Das Volk will ein Ende der Korruption!" Dann treiben Polizisten die Menschen auseinander, sie schießen, Zivilistinnen fallen zu Boden, Helfer ziehen sie aus dem Schussfeld.
Schaut man diesen Film heute, scheint es, als gebe es in Ägypten kein Entkommen aus dem Kreislauf von Unterdrückung, Aufbegehren, Niederschlagung und noch mehr Unterdrückung. Dabei zeigen diese Bilder auch, was möglich ist.
Spricht man mit Ägypterinnen und Ägyptern über die Tage des Aufruhrs Anfang 2011, die am 25. Januar begannen und am 11. Februar mit dem Rücktritt von Hosni Mubarak ihren Höhepunkt fanden, dann erinnern sich viele vor allem an das Gefühl, ein Volk zu sein, das gemeinsam für "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" kämpfte. Daran, dass zumindest dieses eine Mal alle sozialen und politischen Gräben überwunden waren.
Damals war es so: Auf dem Tahrir-Platz bauten Demonstrierende Zelte und Bühnen auf, es waren Frauen mit und ohne Kopftuch, Männer im traditionellen Gewand oder im Anzug oder in Arbeitskleidung. Sie alle aßen zusammen und sangen Protestlieder. Als am 11. Februar 2011 der damalige Vizepräsident Omar Suleiman Mubaraks Rücktritt verkündete, weinten und schrien sie, vereint in ihrer Erleichterung, sie schossen Feuerwerksraketen in den Abendhimmel und schwenkten die ägyptische Fahne.
Sie dachten, sie hätten es geschafft. Doch sie hatten sich getäuscht.
Die Haltung zum Militär entzweit die Gesellschaft
Nach Mubaraks Abtritt übernahm der oberste Rat der Streitkräfte (SCAF) die Kontrolle. Anfangs gab sich die Armee als Beschützer der Demonstrierenden, doch das änderte sich schnell. Statt wie zugesagt die Macht bald einer zivilen Regierung zu übertragen, verschaffte sich das Militär mehr Einfluss und verzögerte die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Soldaten prügelten mit Stöcken auf die Revolutionäre ein, die weiterhin für mehr Mitbestimmung auf die Straße gingen. Sie quälten die Demonstrantinnen mit sinnlosen Jungfräulichkeitstests – angeordnet hatte das der damalige Feldmarschall und heutige Präsident Abdel Fattah al-Sissi.
Im Juni 2012 gewann der Anführer der Muslimbrüder, Mohammed Mursi, die Präsidentschaftswahl. Es war die erste demokratische Wahl in Ägypten, die aber einen Präsidenten an die Macht brachte, der dann nicht demokratisch regierte. Er wollte die Religion zur Staatsdoktrin erheben. Viele verspotteten damals den ungeschickten Autokraten, andere fürchteten einen gesellschaftlichen Rückschritt.
Mursis Amtszeit war geprägt vom Kräftemessen mit dem Militär, das sich immer mehr Befugnisse sicherte und Mursi im Sommer 2013 schließlich aus dem Amt putschte – durchaus mit Unterstützung der Bevölkerung. Vielen Ägypterinnen und Ägyptern schien die Armee damals die Rettung vor den Islamisten zu sein und der künftige Präsident Al-Sissi als eine Art Heilsbringer. Doch Al-Sissi machte schnell deutlich, wie er mit seinen Feinden verfahren würde: verfolgen, verhaften, vernichten. Nach dem Motto: Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich.
Im August 2013 räumten Polizisten und Sicherheitskräfte den Rabaa-al-Adawiya-Platz in Kairo. Anhänger der Muslimbrüder hatten dort ein Zeltlager errichtet und wochenlang gegen die Absetzung Mursis protestiert. Am Ende waren mehr als 1.000 Menschen tot, Tausende verletzt. Laut Human Rights Watch war das Rabaa-Massaker eine der grausamsten Massenexekutionen von Demonstrierenden in der jüngeren Geschichte.
Die Brutalität des Militärregimes entzweite die ägyptische Gesellschaft bald, Anhänger und Gegnerinnen der Armee standen sich unversöhnlich gegenüber. Der Riss verlief auch durch die Gruppe der säkularen Demokratiebewegung selbst, die die Revolution 2011 maßgeblich in Gang gebracht hatte. Viele der einstigen Tahrir-Aktivsten fühlten sich von allen verraten: vom Militärrat, von Mursi, von den Salafisten, die erst mit den Demonstrierenden mitgelaufen waren, dann aber mit dem Militär paktiert hatten; verraten auch vom Militär, das unter Al-Sissi so einflussreich wurde wie nie zuvor.
Zur Wahrheit gehört auch, dass nicht wenige der Revolutionäre lange das Militär unterstützten, auch noch, als klar wurde, wie grausam es gegen die Anhänger der Muslimbrüder vorging. Auch einige ägyptische Intellektuelle, Leitfiguren der Revolution, ließen sich vom Hass gegen die Muslimbrüder anstacheln, etwa der Schriftsteller Ala al-Aswani. Viele Liberale verstanden erst, wie gefährlich Al-Sissi ist, als er begann, auch gegen sie vorzugehen.
Menschen wie Al-Aswani sind heute erbitterte Gegner Al-Sissis. Die Demokratiebewegung hat es weder geschafft, den Protest in ein politisches Programm umzuwandeln, noch, jene Ägypter zu mobilisieren, die nicht so weltoffen, gebildet und vergleichsweise wohlhabend waren wie sie selbst. Doch ihre Anhängerinnen haben ihr Leben riskiert, damit sie und ihre Mitbürger in Würde leben können. Viele tun das bis heute.