Tunesiens Jugend sieht rot

Die tunesische Bewegung der "Rotwesten" wurde von Frankreichs "Gelbwesten" inspiriert. Sie reflektiert die Unzufriedenheit vieler Tunesier in den marginalisierten Regionen des Landes - ihre Wut gegen steigende Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und Misswirtschaft. Von Alessandra Bajec aus Tunis

Von Alessandra Bajec

Am 8. Dezember verbreiteten tunesische Aktivisten in den sozialen Medien eine offizielle Mitteilung, in der sie ankündigten, eine neue Graswurzelgruppe mit dem Namen "Rotwesten" zu gründen. Diese Bewegung soll friedliche Proteste gegen die Regierung organisieren, die als unfähig angesehen wird, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern. Die Gruppe eifert damit den französischen "Gelbwesten" nach – mit einem farblichen Unterschied: Denn das Rot der Westen leitet sich von der Farbgebung der tunesischen Nationalfahne ab.

In der jüngsten Mitteilung der Aktivisten heißt es: "Da es den regierenden Eliten an Ehrlichkeit und Transparenz mangelt, und da sich die Regierung immer mehr von den einfachen Menschen entfernt, gründen wir, die tunesische Jugend, heute die Bewegung der Rotwesten, um Tunesien zu retten."

Die neue Kampagne entstand nur einen Tag, nachdem der tunesische Ministerpräsident Youssef Chahed zugegeben hatte, dass das Land immer noch unter "weit verbreiteter Korruption" leidet. Dabei habe es in den letzten Jahren keine ernsthaften Fortschritte gegeben. Aufgrund struktureller Korruption nimmt die Arbeitslosigkeit weiter zu, was zur Folge hat, dass die Unterschiede zwischen den Klassen immer größer werden.

Die tunesische Jugend ergreift die Initiative

Momentan hat die Bewegung auf ihrer Facebook-Seite über 16.320 Freunde – davon 5.300 bereits in den ersten 24 Stunden nach der formellen Gründung. Die Rotwesten verstehen sich als eine apolitische Bewegung, die ohne kommerzielle Förderung auskommt. Sie wird von jungen Tunesiern im Alter zwischen zwanzig und vierzig unterstützt – und hat im ganzen Land bereits zwölf regionale Koordinierungskomitees sowie Dutzende Lokalkomitees gegründet. Die Initiative, die sich noch im Aufbauprozess befindet, will transparent und offen für alle Bürger sein.

Die Pioniere des Protestbündnisses sind u.a. die Mitgründer Yassin Ouerghi und Bourhan al-Ajlani (der bereits kurz nach der Gründung der Rotwesten verhaftet wurde) sowie Riadh Jrad und Nejib Dziri, die dem Nationalbüro angehören. Die Gründer sind ehemalige Mitglieder der linksgerichteten Generalgewerkschaft der tunesischen Studenten (UGET).

Pressekonferenz der "Rotwesten" am 14. Dezember 2018 in Tunis; Foto: Alessandra Bajec
Couragiert und engagiert im Dienste der Marginalisierten: Ziel der "Rotwesten" ist es, die Regierung für ihre Unfähigkeit, die wirtschaftliche Lage im Land zu verbessern, endlich zur Rechenschaft zu ziehen. Sie kritisieren die Führung in Tunis und die politischen Parteien, die sie für die Misere verantwortlich machen.

"Durch Tunesien zieht sich ein tiefer Graben zwischen den Küstenregionen und dem Hinterland. Die Revolution von 2011 hatte ihren Ursprung im (marginalisierten) Landesinneren, aber diese Gegenden konnten nach dem Ende der Ben-Ali-Diktatur und vom demokratischen Aufbruch ökonomisch nur wenig oder gar nicht profitieren", beschwert sich Bourhans Bruder Ghassen al-Ajlani, der ursprünglich aus dem Gouvernement Kasserine stammt. Seiner Meinung nach ist die wirtschaftliche Misere der abgehängten Regionen im Landesinneren das Ergebnis der "neoliberalen, kapitalistischen Entwicklung", die u.a. vom IWF diktiert würden.

Frankreichs Gelbwesten als Vorbild

Ghassen al-Ajlani ist schockiert über die Verhaftung seines Bruders und erklärt, Bourhan sei ein junger, intelligenter und hochgebildeter Mann und ein resoluter Gegner des Islamismus. In Kasserine sei er bereits seit Langem als Aktivist bekannt und sehr gut mit der dortigen revolutionären Jugend vernetzt. Außerdem habe es bereits im vergangenen Dezember in dieser Region politische und soziale Proteste gegeben, hinter denen er seinen Bruder als Initiator vermutet.

"Wenn über die Rotwesten geschrieben wird, bekommen die Machthaber Angst", so Ghassen al-Ajlani. Sie sehen, dass die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich immer machtvoller auftritt und dass so etwas auch in Tunesien entstehen kann, wo die Bürger "über die Missstände sogar noch empörter sind als in Frankreich!"

Das Ziel der Rotwesten ist es, die Regierung für ihre Unfähigkeit, die wirtschaftliche Lage im Land zu verbessern, endlich zur Rechenschaft zu ziehen. Sie kritisieren die Führung in Tunis und die politischen Parteien, die sie für die Misere verantwortlich machen.

Die Regierenden "verstehen nur zu gut, dass sich diese Bewegung in der Bevölkerung festsetzen und das Establishment mitsamt seiner Macht in Frage stellen könnte", meint Yassin Ouerghi. "Wir haben einen Traum. Wir wollen eine aktive und nachhaltig agierende Jugendbewegung formieren, um die Zukunft unseres Landes zu gestalten."

22 Forderungen für mehr soziale Gerechtigkeit

Der Mitgründer der Gruppe zählt die wichtigsten ihrer insgesamt 22 Forderungen auf: den Mindestlohn auf 600 tunesische Dinar (180 Euro) und die staatliche Rente auf 400 TND (120 Euro) erhöhen, eine Strategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen entwickeln, die Lebenshaltungskosten senken, den Lebensstandard erhöhen, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen beenden, das öffentliche Gesundheits-, Ausbildungs- und Transportwesen reformieren und – nicht zuletzt – korrupte Beamten künftig schärfer juristisch zur Rechenschaft ziehen.

Die Forderungen der Rotwesten reflektieren den Unmut von großen Teilen der Bevölkerung, die mit der wirtschaftlichen Lage in dem nordafrikanischen Land immer unzufriedener sind.

Arbeiterproteste am 17.01.2019: Generalstreik in Tunesien, organisiert vom Gewerkschaftsdachverband UGTT; Foto: picture-alliance/AA
Ein Generalstreik hat das öffentliche Leben in Tunesien am Donnerstag größtenteils lahmgelegt. Zehntausende Menschen im ganzen Land gingen auf die Straße, um gegen die Regierung und die gescheiterten Gehaltsverhandlungen für den öffentlichen Sektor zu demonstrieren. Mehr als 650 000 Angestellte im öffentlichen Dienst legten am Donnerstag ihre Arbeit nieder. Am internationalen Flughafen in der Hauptstadt Tunis wurden fast alle Flüge gestrichen.

Acht Jahre nach der Jasminrevolution konnte Tunesien nicht alle Reformversprechen einlösen, obwohl seit 2011 neun verschiedene Regierungen an der Macht waren. Zwar fand im Land ein erfolgreicher demokratischer Wandel statt, doch die Wirtschaft wurde von den Anpassungsmaßnahmen hart getroffen. So sehr, dass die Inflation inzwischen mit rund 8 Prozent auf ein Rekordniveau geklettert ist, ebenso wie die Arbeitslosigkeit, die bei 15 Prozent liegt (bei Schulabgängern gar bei 30 Prozent). Außerdem verliert die Landeswährung Dinar immer stärker an Wert.

Den sozial Benachteiligten eine Stimme geben

Inmitten der politischen Turbulenzen nach dem Sturz des ehemaligen Diktators Zine El Abidine Ben Ali im Jahr 2011 hatten Tunesiens Gläubiger gefordert, die Wirtschaft rasch zu reformieren und das Haushaltsdefizit zu verringern. Zu diesem Zweck gab es massive Sparmaßnahmen – beispielsweise wurden die Steuern erhöht und die Brennstoffsubventionen abgeschafft, was zu einer Vervielfachung der Benzin- und Energiepreise geführt hat. Vor diesem Hintergrund wurden die Rotwesten gegründet, um den politischen Status Quo herauszufordern.

Während einer Pressekonferenz am 14. Dezember 2018 erklärten die Aktivisten, die Gruppe plane nicht nur im Landesinneren friedliche Proteste gegen die Regierung, sondern auch in der tunesischen Hauptstadt. Eine erste Demonstration gegen steigende Preis und nachlassende Kaufkraft fand am 17. Dezember in Kasserine statt – zeitgleich zum achten Jahrestag der tunesischen Revolution.

"Wir wollen der Stimme der marginalisierten und verarmten Bevölkerungsschichten Ausdruck verleihen", gab Rotwesten-Aktivist Jrad während der Pressekonferenz bekannt. "Daher setzen wir uns für eine unmittelbare Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Tunesier ein und protestieren gegen weitere Preissteigerungen."

Der jüngste Generalstreik der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Tunesien, der von der Gewerkschaft UGTT organisiert wird, dürfte ihrer Kampagne wohl weiteren Auftrieb verliehen haben. Gegenwärtig planen die Aktivisten der Rotwesten, vor der Regierungszentrale eine Mahnwache mit dem Namen "Kasbah 3" abzuhalten. Das genaue Datum für die Protestveranstaltung wird noch bekannt gegeben.

Alessandra Bajec

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff