Quälende Erinnerung an das Leid in Syrien

Die Bilder aus Aleppo und Madaya zeigen, dass die syrische Bevölkerung Hilfe braucht. Die internationale Gemeinschaft muss eine friedliche Lösung fördern, meint Marianne Gasser vom Internationalen Roten Kreuz in Syrien.

Von Marianne Gasser

Die Kinder waren so unterernährt, dass sie unsere Ankunft kaum bemerkten.

Das Bild von Mädchen und Jungen, die bis auf die Knochen abgemagert sind, wird mich für immer verfolgen. Aber die Erinnerung an unseren Hilfseinsatz in der syrischen Stadt Madaya nordwestlich von Damaskus im Januar 2016 ist noch schlimmer.

In diesem kalten Wintermonat trafen wir in einem dunklen Kellerverschlag auf Kinder, deren Blick ins Leere ging, und auf Erwachsene, die einfach regungslos vor sich hin starrten - alle unterkühlt, krank und Hunger leidend. Sie lagen lethargisch auf den am Boden ausgebreiteten blauen Decken in dieser provisorischen, unterirdisch angelegten Klinik, in der sie Schutz vor den Luftangriffen gesucht hatten.

Syrien leidet unter dem seit acht Jahre dauernden Konflikt. Jede einzelne Familie hat einen Angehörigen verloren. Keine Familie hat die Zeit unbeschadet überstanden, sei es durch Vertreibung, Verletzung, Tod oder Verschwinden von Angehörigen. Unzählige Häuser, Spitäler, Schulen sowie Strom- und Wasserversorgungen wurden beschädigt oder zerstört.

Syrien braucht Hilfe - jetzt

Syrien braucht Hilfe - und zwar jetzt. Ich muss es wissen. In den vergangenen acht Jahren habe ich die meiste Zeit als Delegationsleiterin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Syrien verbracht und beobachtet, wie das Land den nur allzu schmalen Grat zwischen willkommenem Frieden und tödlicher Zerstörung überschritten hat.

Ohne einen politischen Durchbruch sowie einen Plan zum Wiederaufbau der zerstörten Gebäude und zum Neuanfang für die geschundenen Menschen ist das Wiederaufflammen eines noch größeren Krieges nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Es müssen Antworten auf die Frage nach mutmaßlich Hunderttausenden vermisster Personen gegeben werden, voneinander getrennte Familien müssen wieder zusammengeführt werden und Menschen, die unter psychologischen Wunden leiden, muss geholfen werden, bevor ein Heilungsprozess stattfinden kann.

Millionen Syrer auf der Flucht - Marianne Gasser in einem Lager für Vertriebene
Schwierige Rückkehr zur Normalität: „Die syrische Bevölkerung muss lernen, wieder zusammenzuleben. Als humanitäre Helfer können wir kurz- und mittelfristige Unterstützung leisten. Ich hoffe, dass die internationale Gemeinschaft sich für eine friedliche langfristige Lösung stark macht“, schreibt Marianne Gasser.

Das Zusammenleben neu lernen

Kurzum: Die syrische Bevölkerung muss lernen, wieder zusammenzuleben. Als humanitäre Helfer können wir kurz- und mittelfristige Unterstützung leisten. Ich hoffe, dass die internationale Gemeinschaft sich für eine friedliche langfristige Lösung stark macht.

Das Trauma von Madaya hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Während unseres Besuchs flüsterte mir eine Mutter von sechs Kindern ins Ohr: "Ich habe gerade meinen ältesten Sohn verloren. Er war 17. Bitte helfen Sie mir, die anderen fünf am Leben zu erhalten."

Eine andere Frau lehnte sich zu mir, lächelte und sagte: "Wissen Sie, was Sie mit Ihrem Besuch bewirkt haben? Sie haben mit uns gesprochen und sich an uns erinnert. Damit haben Sie uns unsere Würde zurückgegeben. Vielen Dank."

Damaskus war eine moderne, lebensfrohe und wunderbare Stadt, als ich 2009 meine Tätigkeit als Delegationsleiterin des IKRK begann. Damals konnte niemand ahnen, dass Syrien schon bald im Chaos versinken würde. Mitte März 2011 begannen rund eine Stunde außerhalb der Hautstadt in einem Ort namens Daraa die ersten gewaltsamen Handlungen. Ein Jahr später hatten sich die Kämpfe auf das gesamte Land ausgeweitet.Die Hälfte aller Syrer - vertrieben

Die Zerstörung und die Anzahl der getöteten, verletzten und vertriebenen Menschen sind herzzerreißend. Landwirtschaftliche Flächen wurden zu Frontlinien. Oliven wurden zum Hauptnahrungsmittel. Millionen Menschen wurden vertrieben - die Hälfte der syrischen Bevölkerung.

Für die Kinder waren Schulen nur noch eine entfernte Erinnerung. Mathematik, Geschichte und wissenschaftliche Fächer wurden durch die Lektionen des Krieges ersetzt: weglaufen, verstecken, trauern und überleben. So viele Kinder unter acht Jahren kennen nichts anderes als den Krieg.

Die jahrelangen Kampfhandlungen haben dazu geführt, dass einige der lebenswichtigen Dienstleistungen des Landes extrem gelitten haben, darunter Schulen, Gesundheitseinrichtungen, Stromnetze, Bewässerungssysteme und die Wasserversorgung. Über 11,5 Millionen Menschen leben heute unter unwürdigen Bedingungen und sind auf Unterstützung angewiesen.

Und selbst wenn Wohnhäuser, Gebäude oder Geschäfte mitunter noch intakt sind, sind die Gegenden häufig mit explosiven Kampfmittelrückständen verseucht, die eine ernsthafte Gefahr für Familien, vor allem für Kinder, darstellen. Es ist entscheidend, Kampfmittelrückstände - einschließlich denjenigen auf landwirtschaftlichen Flächen - nun sicher zu entsorgen.

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Die Seelen der Menschen wieder aufbauen

Aleppo. Denken Sie bei diesem Namen an unbeschreibliche Zerstörung und unermessliches Leid? Ich schon.

Ende 2016 wurde die Stadt ohne Unterlass von Granaten getroffen und Wohnbezirke wurden zum Ziel von Mörserangriffen. Der Krieg hat der Stadt ihr Herz genommen und sie ihrer Seele beraubt.

Bei eisigen Temperaturen überquerten das IKRK und der Syrisch-Arabische Rote Halbmond die Frontlinie, um schließlich in ein Trümmerfeld zu gelangen. Wir stiegen aus den Fahrzeugen und schwenkten die Flagge des Roten Kreuzes, damit alle wussten, wer wir waren.

Dort habe ich einen der bewegendsten Anblicke meines Lebens gesehen: Tausende Menschen - vor allem Frauen und Kinder - warteten darauf, evakuiert zu werden. Viele von ihnen trugen Lumpen und hatten abgewetzte Taschen dabei. Erschöpfung, Angst und Hoffnung standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Zerstörung war überall.

Es gab so viele Kinder und kaum eines trug warme Kleidung. Sie waren ganz still und gaben keinen Laut vor sich, nicht mal ein Lächeln. Ihre Blicke waren leer.

So sieht Leben aus, wenn es nichts als Gewalt kennt. Das ist der Grund, warum nicht nur die Gebäude, sondern vor allem die Seelen der Menschen in Syrien wieder aufgebaut werden müssen. Madaya, Aleppo, Tod, Zerstörung - eine Welt, in die Syrien nicht mehr zurückkehren darf.

Marianne Gasser

© Deutsche Welle 2019

Marianne Gasser war von 2009 bis 2013 und von 2015 bis 2019 Delegationsleiterin Delegationsleiterin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Syrien.