Die Realität anerkennen

In Marokko soll das strenge Abtreibungsrecht gelockert werden. Ein erster Entwurf, den die Minister für Justiz, religiöse Angelegenheiten und Menschenrechte Mitte Mai vorlegten, ist bei Frauenrechtsorganisationen teilweise auf scharfe Kritik gestoßen, während Ärzte sich verhalten optimistisch äußerten. Von Martina Sabra

Von Martina Sabra

Wieviele Frauen in Marokko illegal abtreiben, ist nicht bekannt, denn zu dem Thema existieren bislang keine Studien. Allerdings gibt es Schätzungen, die auf Stichproben und auf Erfahrungswerten der Weltgesundheitsorganisation WHO basieren: Diese legen nahe, dass in Marokko jährlich mindestens 200.000 illegale Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden.

Da illegale Abtreibungen bei Ärzten teuer sind – umgerechnet kostet ein Abbruch zwischen 200 und 600 Euro – greift mutmaßlich jede fünfte Betroffene mangels Geld zu unsicheren Methoden, oft mit dramatischen Folgen. Jährlich sterben im Schnitt 7.000 Marokkanerinnen an den direkten oder indirekten Folgen unprofessionell durchgeführter Schwangerschaftsabbrüche.

Chafik Chraibi ist Chefarzt einer großen staatlichen Geburtsklinik in Rabat. Er sehe täglich Patientinnen, die unter den Folgen illegaler, unprofessionell vorgenommener Abtreibungen leiden. "Sie haben schlimmste Blutungen, schwere Infektionen, genitale Verletzungen und Vergiftungen. Manchmal ist es zu spät, dann können wir die Frauen nicht mehr retten", sagt Chraibi im Gespräch mit Qantara.de. "Das hat mich empört, ich wollte etwas tun."

Justiz gegen Ärzte

Bereits im Jahr 2008 gründete Chraibi mit einer Handvoll Kolleginnen und Kollegen die "Vereinigung zum Kampf gegen illegale Abtreibungen" (AMLAC). Bei der aktuellen Debatte über die Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Marokko spielt die Organisation eine führende Rolle.

Wäre die Abtreibung in Marokko legal, könnten viele Leben gerettet, Komplikationen vermieden werden. Doch bislang durften Ärzte in Marokko nur unter einer Bedingung einen Abbruch durchführen: Bei Gefahr für die physische Gesundheit der werdenden Mutter. Wer zuwider handelte, riskierte bis zu fünf Jahre Gefängnis, und die Justiz war aktiv. Immer wieder kam es zu Anklagen und teilweise harschen Urteilen gegen Frauenärzte.

Chafik Chraibi; Foto: Siham Ouchtou/DW
Mitinitiator der "Vereinigung zum Kampf gegen illegale Abtreibungen" (AMLAC): Chafik Chraibi, Chefarzt einer großen staatlichen Geburtsklinik in Rabat, beobachtet täglich Patientinnen, die unter den Folgen illegaler, unprofessionell vorgenommener Abtreibungen leiden.

Selbst ein öffentliches Statement konnte riskant sein: Ende Januar 2015 wurde Chafik Chraibi von seinem Chefposten an der Geburtsklinik in Rabat suspendiert, weil er ein französisches TV-Team bei einer Reportage über illegale Abtreibungen in Marokko unterstützt hatte. Chraibi musste vor Gericht gehen, um die Suspendierung rückgängig zu machen.

Rückendeckung durch das Königshaus

Umso größer ist die Überraschung, dass die Befürworter einer Liberalisierung des Abtreibungsrechtes nun anscheinend Rückendeckung von ganz oben bekommen: Am 16. März 2015 bestellte König Mohammed VI. die Minister für Justiz, religiöse Angelegenheiten und Menschenrechte in seinen Palast und gab ihnen den Auftrag, binnen eines Monats einen ersten Entwurf für ein neues Gesetz zu erstellen. Bei den Konsultationen sollten Wissenschaftler, zivilgesellschaftliche Akteure und Medienvertreter einbezogen werden.

Seit dem 15. Mai 2015 liegt der Rahmenentwurf für die Gesetzesreform vor. Die königlichen Berater empfehlen, einen Abbruch künftig nicht nur bei Gefahr für das Leben der Mutter zu erlauben, sondern auch bei Gefahr für die Gesundheit der Mutter; bei einer schweren Missbildung oder unheilbaren Krankheit des Fötus, und bei Vergewaltigung oder Inzest.

Marokkanische Frauenorganisationen beurteilen den ersten Entwurf kritisch. Eine breit gefächerte Koalition marokkanischer Frauenorganisationen, die sich "Le Printemps de la Dignité" (Frühling der Würde) nennt, gab am 25. Mai 2015 öffentlich bekannt, dass man die neue Offenheit beim Thema Schwangerschaftsabbruch begrüße.

Mohammed VI.; Foto: Getty Images
Rückendeckung für die Befürworter einer Liberalisierung des Abtreibungsrechtes: Marokkos König Mohammed VI.

Doch der vorliegende Reformentwurf gehe an der realen Situation vorbei: "Die genannten Indikationen betreffen nur kleine Minderheit der Frauen in Not. Außerdem wird der Schwangerschaftsabbruch als eine Frage von Religion und Moral behandelt. Es geht aber um die öffentliche Gesundheit", heißt es in dem Kommuniqué.

Auch Hafida Elbaz, leitende Mitarbeiterin von "Solidarité Féminine", einer Organisation für ledige Mütter, zeigt sich enttäuscht: "Es war klar, dass diese Beraterkommission sehr behutsam vorgehen würde. Aber dass der Entwurf derart restriktiv ausfallen würde, damit hatten wir nicht gerechnet. Ob die betroffenen Frauen minderjährig sind, oder geistig behindert, das wird überhaupt nicht erwähnt. Wir sind enttäuscht", so Elbaz.

Forderung nach Entkriminalisierung der Abtreibung

Säkulare marokkanische Frauenrechtlerinnen fordern eine generelle Entkriminalisierung der Abtreibung, auf der Basis universaler Menschenrechte und der Selbstbestimmung der Frau. Doch für viele stark religiös geprägte Marokkaner stehe nicht das Menschenrecht der Frau im Mittelpunkt, sondern der Schutz des ungeborenen Lebens, sagt der Islamwissenschaftler Nils Fischer: "Der Koran enthält ein Tötungsverbot, und Lebensschutz ist ein zentrales Gut im Islam."

Zwar sage der Koran explizit nichts zum Thema Schwangerschaftsabbrüche, so Fischer. Aber in der Sunna und in der islamischen Medizinliteratur gebe es zahlreiche Aussagen über die Frühstadien menschlichen Lebens im Mutterleib: "Einige Autoren meinen, dass der Embryo binnen 40 Tagen beseelt wird, andere gehen davon aus, dass die Beseelung erst nach 120 Tagen der Fall ist. Das sind die beiden wichtigsten Positionen."

Aufgrund der Lehre von der stufenweisen Beseelung konnten islamische Rechtsgelehrte bis Anfang des 20. Jahrhunderts unter bestimmten Umständen einen Schwangerschaftsabbruch erlauben. Heute sehen viele die Befruchtung der Eizelle bzw. die Einnistung in die Gebärmutter als Beginn des Lebens an und plädieren daher für ein Totalverbot der Abtreibung.

Doch was die islamischen Theologen sagen, muss die Politik sich nicht zu eigen machen. So erlaubte Tunesien schon in den 1970er Jahren die nahezu kostenlose Abtreibung in staatlichen Krankenhäusern. Den damals herrschenden tunesischen Eliten war Bevölkerungspolitik wichtiger – die entsprechenden religiösen Gutachten wurden nachgeliefert.

Reformen mit gesellschaftspolitischer Signalwirkung

In Marokko sind die politischen Koordinaten anders, aber auch hier wird mit dem emotional hoch aufgeladenen Thema Abtreibung Machtpolitik betrieben. Beobachter der politischen Landschaft ziehen Parallelen zur Reform des Personenstandsrechts ("Mudawwana") im Jahr 2004, die das Gehorsamsprinzip abschaffte und marokkanischen Ehefrauen endlich die Möglichkeit gab, von sich aus die Scheidung einzureichen.

Damals ging es König Mohammed VI. nicht nur um die Emanzipation der Frauen, sondern auch um ein politisches Signal an die modernistischen Eliten im In- und Ausland. Außerdem sollte die islamistische Opposition in die Schranken gewiesen werden.

Marokkanische Frauen; Foto: dpa
Verbesserung des legalen Status der marokkanischen Frauen: Die sogenannte "Mudawwana", das neue Familienrecht in Marokko aus dem Jahr 2004, ist eines der modernsten in der arabischen Welt. und Es eröffnete erstmals marokkanischen Ehefrauen die Möglichkeit, von sich aus die Scheidung einzureichen.

Im kommenden September stehen in Marokko Kommunal- und Regionalwahlen an. Nach dem Willen des Königs soll die größte islamistische Partei, die PJD, die im Parlament über ein Viertel der Sitze verfügt und die den Regierungschef stellt, ihren Einfluss nicht noch weiter ausbauen. Mit emotional aufgeladenen Themen wie Abtreibung könnte die PJD jedoch im Wahlkampf punkten. Um das zu verhindern, ist es für den König opportun, brisante politische Themen in seinem Sinne zu besetzen.

Bis Ende des Jahres soll das neue Abtreibungsgesetz veröffentlicht werden. Wie es jedoch im Detail aussehen wird, bleibt bislang offen. "Entscheidend wird sein, wie der Gesetzgeber den Begriff Gesundheit definiert", meint Chafik Chraibi im Gespräch mit Qantara.de.

"Das Wichtigste ist die Prävention"

Die WHO versteht unter "Gesundheit" nicht nur das physische, sondern auch das psychische und soziale Wohlbefinden. "Wenn wir es schaffen, uns auf diese weitreichende Definition zu einigen, dann haben wir gewonnen", meint der Arzt.

Unabhängig von den Begriffsdefinitionen ist absehbar, dass die Debatte das Land verändern wird. "Die marokkanische Gesellschaft ist im Umbruch. Viele junge Leute haben selbstverständlich Sex außerhalb der Ehe. Im Grunde ist das Wichtigste die Prävention. Doch sexuelle Aufklärung und Informationen über Verhütungsmittel sind leider rar", konstatiert Chraibi.

Und nicht nur das: Außerehelicher Geschlechtsverkehr wird vom Gesetz kriminalisiert und als Prostitution bestraft. Außerehelich gezeugte Kinder sind weitgehend rechtlos und gesellschaftlich stigmatisiert.

"Wenn wir weniger Tabus hätten und mehr Rechte für unverheiratete Mütter und ihre Kinder, dann wäre der Schwangerschaftsabbruch in vielen Fällen gar kein Thema", sagt Hafida Elbaz von der Frauenorganisation "Solidarité Féminine".

Die Realität anerkennen, wie sie ist: Auch darum wird es bei der marokkanischen Abtreibungsdebatte in den nächsten Monaten gehen.

Martina Sabra

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