„In den Augen der Katzen werdet ihr mich sehen“

Ende August wurde Twitter von einer Trauerwelle erfasst, als sich die Nachricht vom Tode eines Mannes verbreitete, der bisher nur unter seinem Pseudonym „Blitz und Donner“ bekannt war. Reem Kelani nimmt Abschied von einem bekannten saudischen Tierschützer, dessen Identität erst nach seinem Tod offenbar wurde.

Von Reem Kelani

Ich wurde vor zwei Jahren auf Barg ou Ra‘d („Blitz und Donner“) aufmerksam. Als ich seine Katzenvideos auf der Suche nach Entspannung vom täglichen Stress sah. Als Katzenliebhaber empfand ich die Entdeckung des Twitter-Kontos von Barg ou Ra'd als Geschenk des Himmels. Das Konto hat mittlerweile knapp 42.000 Follower.  Das Pseudonym Blitz und Donner bezieht sich auf zwei Katzen, die dem Verstorbenen erst kürzlich entlaufen sind. Barg ou Ra‘d kümmerte sich aufopferungsvoll um eine Katzenfamilie, der ständig irgendetwas zustieß: Einige wurden vermisst, andere überfahren oder fielen dem Calicivirus zum Opfer.

In einem Nebenraum seines Hauses, dem Madschlis, der nach der Tradition üblicherweise Gästen vorbehalten ist, erhielten wir als Twitter-Follower Einblick in einen geräumigen Raum, ausgelegt mit Orientteppichen. Die komplette Einrichtung ist noch vorhanden: Kissen, die als Rücken- und Armlehnen dienen; eine schlanke Thermoskanne für den Beduinenkaffee; ein Kamin, vor dem im Sommer die Katzen auf dem kühlen Marmor faulenzten und im Winter eingerollt Wärme tankten; ein großer Fernseher, auf dem Sport- und Tierprogramme liefen; zwei Klimaanlagen auf gegenüberliegenden Seiten des Raumes, die die Katzen abwechselnd mit kühler Luft umstrichen; traditionelle Messing-Kaffeekannen; Emaillebehälter voller Katzenleckereien; Vorräte an Katzenfutter sowie eine provisorische Tierklinik.

Charismatisch, geistreich und fürsorglich

Zudem gibt es noch die Hündin Najma („Stern“) – eine Streunerin. Entgegen einem gängigen Vorurteil sind die Kanaan-Hunde, die seit Urzeiten als freilebende Beduinenhunde in der Wüste leben, neben ihrer üblichen Rolle als Wächter und Hüter perfekte Haustiere. Der verbreiteten Geringschätzung der Hunde zum Trotz nahm Barg ou Ra'd die Hündin Najma unter seine Obhut und baute ihr sogar eine hübsche Hütte.

Nachdem Najma ihre beiden Welpen verloren hatte und depressiv geworden war, widmete er sich ihr mit besonderer Aufmerksamkeit.

Ein postum aufgenommenes Video zeigt Freunde des Verstorbenen, die in einem nunmehr seelenlosen Madschlis nach den verstörten Katzen sehen. Die trauernden Follower erfahren, dass Najma seit dem Tod ihres Herrn ununterbrochen bellt.

Die Katzenfamilie im Madschlis setzt sich aus Charakteren zusammen, die so charismatisch, geistreich und liebevoll sind wie ihr Hausherr. Da ist Braig'a („Die mit dem Schleier“), eine neurotische Obermutter mit einem schwarzen Fleck über jedem Auge; Bahar („Meer“), ein fürsorglicher weiß-roter Kater, der verwaisten Kätzchen erlaubte, an ihm zu saugen; Blackie, ein tiefschwarzer Softie, der es sich gerne im Schoß seines Pflegers bequem machte; Silver, ein flinkes, intelligentes Kätzchen, das Fangen spielte, bis es zu unserer Bestürzung verschwand; Tommy (ausgesprochen Toamie), ein schwarz-weißer Frechdachs und Sara, eine üppige, blaublütige Schönheit.

Die Ahnenreihe ist kompliziert: Barg ou Ra'd legte stets Wert darauf festzustellen, wer wessen Sohn, Tochter, Mutter, Vater und Vorfahre war. Das gesamte Rudel stammt von al-Jidda („Großmutter“) ab, die einst in den Madschlis stolzierte und dort den ersten von vielen weiteren Würfen zur Welt brachte.

Barg ou Ra'd sah sich nicht nur als Entertainer. Seine Videos entwickelten sich zu einem pädagogischen Werkzeug. Er zeigte unter anderem, wie man eine Futterröhre herstellt, wie man Injektionen verabreicht und wie man sich um sterbende Tiere kümmert, beispielsweise um Marzoug („Vom Glück gesegnet“). Dieser betagte Streuner stammte nicht von Großmutter ab. Er war eher ein Untermieter, der kam und ging, wann und wie es ihm passte. Doch als Marzoug spürte, dass es mit ihm zu Ende ging, wurde Barg ou Ra'd sein Pfleger und das Madschlis sein Hospiz. Als Marzoug starb, konnten wir unsere Tränen nicht zurückhalten.

Eine postum offenbarte Identität

Brigadegeneral Salih Al-Ayed; Quelle: Twitter
"With hindsight," writes Reem Kelani, "one can see where Al-Ayed got his discipline and passion for animal welfare. Islam was his yardstick in this regard […]. His Twitter profile aptly reads: 'Fame is not my aim, otherwise, I would've shown my true identity. My aim is to spread awareness of kindness towards animals in the way our tolerant faith decreed…'"

Barg ou Ra'd wurde 1964 in eine bäuerliche Familie geboren und lernte von klein auf den Umgang mit Tieren. Trotz der ärmlichen Verhältnisse und ohne die Segnungen der Moderne, wie beispielsweise elektrischen Strom, entwickelte er sich zu einem exzellenten Schüler und machte Karriere. 

Seit eine seiner Töchter den bewegenden Tweet mit dem Titel „Die Erfolgsgeschichte meines Vaters“ postete, wissen wir , dass Brigadegeneral Salih Al-Ayed ein hochrangiger Polizeibeamter war, der für die Sicherheit an den heiligen Stätten in Medina verantwortlich zeichnete, der zweitwichtigsten heiligen Stadt des Islam.

Im Nachhinein versteht man, woher Al-Ayed seine Disziplin und seine Leidenschaft für den Tierschutz bezog. Der Islam war sein Maßstab. Ganz im Unterschied zur weit verbreiteten Ansicht, Hunde wie Najma seien unrein oder Katzen wie Blackie verhext. So liest sich auch sein Twitter-Profil: „Ich will keinen Ruhm, sonst hätte ich meine wahre Identität gezeigt. Ich will für Freundlichkeit gegenüber Tieren werben, so wie es unser toleranter Glaube verfügt ...“

Ich habe meine prägenden Jahre in Kuwait verbracht und bin daher mit Golf-Dialekten vertraut. In der sympathischen Stimme Al-Ayeds schwang ein typischer saudischer Akzent mit Anklängen an die Beduinen und das Rote Meer mit. Seine Mundart, gespickt mit frechen Redewendungen, begleitete so manches Video.

Ungeachtet der kulturellen und politischen Unterschiede seiner Anhänger verband uns alle die Liebe zu Tieren und die Wertschätzung für unseren Gastgeber. Eine seiner charakteristischen Wortprägungen war die Bezeichnung der Katzentoilette als „litter tisht", wobei „Toilette“ durch „tisht“ ersetzt wurde, arabisch für „Schüssel“.

Der Vorname „Salih“ hat viele Bedeutungen, beispielsweise „fromm“, „pflichtbewusst“ oder „wahrhaftig“. Das alles trifft auf Al-Ayed zu. Ein Herzinfarkt setzte dieser guten Seele ein abruptes Ende. Er verschwand so plötzlich wie einige seiner Katzen. Al-Ayed hinterlässt Frau, vier Töchter, zwei Söhne, zauberhafte Tiere und Tausende von Anhängern, die fest davon überzeugt sind, dass sein Vermächtnis fortgeführt werden sollte. Nicht nur in seiner treusorgenden Familie und bei seinen Anhängern, sondern in der arabischen Welt insgesamt.

Reem Kelani

© Qantara.de 2020

Salih bin Ali Al-Ayed (1964-2020), Tierschutzaktivist, Influencer und Brigadegeneral (a. D.) bei der Stadtpolizei von Medina, Saudi-Arabien

Aus dem Englischen von Peter Lammers