Großes Kino im syrischen Niemandsland

Die syrische Schriftstellerin und Filmkritikerin Abeer Esber hat einen Roman über Sehnsüchte und Träume in der syrischen Provinz geschrieben. Das Buch ist ein kleiner Prosa-Edelstein, meint Volker Kaminski.

Von Volker Kaminski

​​Viele Geschichten erzählen von Menschen aus der Provinz, die – aus Not oder freiem Entschluss – eines Tages beschließen, in die Großstadt, ins Zentrum des Landes aufzubrechen. Immer steht dabei der Verlust der eigenen vertrauten Welt dem ungewissen Gewinn des Neuen gegenüber. In "Lulu", Abeer Esbers erstem Roman in deutscher Übersetzung, wird der umgekehrte Fall geschildert. Die Großstadt, das Fremde und Exotische, kommt in Form eines quirligen ägyptischen Filmteams in ein syrisches Grenzstädtchen, um einen Spielfilm zu drehen. Für den jungen Khaled, der bisher nur als "Schulabbrecher" und Feldarbeiter in Al Hissn gelebt hat, bedeutet dieses Ereignis einen Wendepunkt in seinem tristen Dasein. Liebe, Irritation der Gefühle, Politik und eine erstaunliche Menge an Bildung sind die Herausforderungen, denen der Siebzehnjährige nun ausgesetzt ist. Riem, die attraktive Regieassistentin, stellt sein bisheriges Leben auf den Kopf, Khaled verliebt sich sofort in sie, aber Riem, die schon fünfunddreißig ist, kneift ihn höchstens in seine "knuddeligen" Wangen und nennt ihn – wie es das gesamte Filmteam tut – Lulu.

Hauch der großen weiten Welt

Es ist ein Glücksfall für Khaled, dass nicht nur Riem, sondern auch Kamal, der Regisseur der Truppe, und das ganze Filmteam auf seine Hilfe angewiesen sind. Khaled sorgt dafür, dass sie ein großes Stück Weideland für ihre Filmzwecke pachten können, um für die Kulisse ein palästinensisches Dorf nachzubauen. Außerdem wird er zum Fremdenführer, er begleitet die launische, exaltierte, aber unwiderstehliche Riem im Auto auf Besichtigungstouren durch die Gegend, immer auf der Suche nach geeigneten Drehorten. Dabei stellt Khaled pausenlos Fragen an sie und gesteht ihr sogar seine Liebe. Riem gefällt diese Aufmerksamkeit und sie geht spielerisch damit um. Sie macht Khaled zu ihrem Schüler, wickelt ihn um ihren Finger und stellt ihm Aufgaben, die seine Kreativität wecken sollen. So trägt sie Khaled ungeniert kokett auf, dass er zu Hause versuchen soll, Dinge zu beschreiben, die ihn faszinieren – zum Beispiel sie selbst. Riem macht sich auch zur Lehrerin seiner Persönlichkeitsentwicklung: Das Wichtigste sei es, erklärt sie ihm, über sich selbst klar zu werden – Khaled müsse sich und seine Umwelt genauer befragen, den Dingen auf den Grund gehen.

Gehärtete, kunstvoll genaue Prosa

Khaled nützt seine Chance sich an den Filmleuten eine Zeit lang zu orientieren, auch wenn ihn deren intellektuelles Niveau natürlich überfordert. Er ist ein wissbegieriger Schüler – wie er es auch in der Schule war.

Abeer Esber; Foto: privat
Abeer Esber, 1974 in Damaskus geboren, studierte Anglistik an der Universität Damaskus und besuchte die Hochschule für Film und Medien (ESRA) in Paris.

​​Esber erzählt von diesem kleinen Leben auf erstaunlich gewitzte Weise, in einer gehärteten, kunstvoll genauen Prosa, einem novellistisch zugespitzten Stil, ohne ein abschließendes Urteil über Khaled zu fällen. In kurzen Kapiteln, die Überschriften tragen, lässt sie ein Kaleidoskop des Dorflebens entstehen, immer aus der Perspektive des lebenshungrigen und von seinen Gefühlen verwirrten Khaled. Zeitweise gerät Khaled in Verzweiflung, doch andererseits wird ihm auch klar, dass das für ihn vorgesehene Leben, so wie seine Eltern sich das vorgestellt hatten, nicht für ihn in Frage kommt. Er löst also seine Verlobung mit dem Dorfmädchen Warda auf, die ihm immer unattraktiver erscheint und die ihrerseits nicht zögert, sofort einen anderen Mann zu heiraten. So steht Khaled nun plötzlich ohne klare Perspektive da, er muss den Konflikt mit seinem Vater austragen, der ihn nicht ziehen lassen will, und versetzt seine Mutter, zu der er eine liebevolle Beziehung hat, in Angst und Schrecken, da er nun seinen Weggang und Aufbruch nach Damaskus plant.

Gespräche mit den Verrückten

Die Filmleute sind politisch denkende Menschen, so dass durch ihren zweimonatigen Aufenthalt auch Themen wie der palästinensisch-israelische Konflikt, die amerikanische Invasion im Irak und die schlechten politischen Zustände in den übrigen arabischen Staaten diskutiert werden.

Logo Alawi-Verlag
Der Alawi-Verlag hat sich auf die Übersetzung arabischer Autorinnen spezialisiert und legt seit etwa einem Jahr – in schöner schlanker Aufmachung – eine Reihe interessanter Romane vor, die bisher in Deutschland nicht bekannt waren.

​​Immer muss sich Khaled im Gespräch mit den "Verrückten", wie sie von den Dorfbewohnern genannt werden, seiner eigenen Position vergewissern und sich zum Beispiel fragen, ob er wie sein zwielichtiger Freund Muhannad, der einen silbernen Mercedes fährt, nicht auch das Leben eines Schmugglers hätte führen können. Es gelingt Esber auf gerade einmal hundert Seiten ein ganzes Feld offener Lebensfragen anzulegen und in Form des Initiationsromans die Suche nach dem eigenen Weg auf zeitgenössische Weise zu behandeln. Dabei ist ein kunstvoller Kurzroman entstanden, der trotz seiner mitunter sperrigen Erzählform einen großen Reiz ausübt. Der Alawi-Verlag hat sich auf die Übersetzung arabischer Autorinnen spezialisiert und legt seit etwa einem Jahr – in schöner schlanker Aufmachung – eine Reihe interessanter Romane vor, die bisher in Deutschland nicht bekannt waren. So erfährt man, dass Esber nach dem Studium in Paris die Filmhochschule besuchte, auch als Drehbuchautorin arbeitet und bereits ein paar Romane in arabischer Sprache veröffentlicht hat. Natürlich bleibt der Roman offen, und es ist der Ehrgeiz der Autorin, das Erzählte selbst am Ende als Fiktion zu entlarven. In dieser postmodernen Geste liegt vielleicht der einzige Makel dieses kleinen Prosa-Edelsteins – dem wissbegierigen und so authentisch wirkenden aufstrebenden Jungen hätte man am Ende gerne seine Geschichte vom aufregenden Filmabenteuer in der syrischen Provinz geglaubt.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2011