Zwei zerrissene Nationen

Am 14. August 2022 beging Pakistan das 75. Jahr seiner Entstehung. Einen Tag später feiert Nachbarland Indien seine Unabhängigkeit mit viel Pomp. Trotz der historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten könnte die Entfremdung zwischen beiden Ländern heute kaum größer sein. Von Mohammed Luqman

Essay von Mohammad Luqman

Pakistan stolpert zurzeit von einer Verfassungskrise in die nächste und steht unter dem Damoklesschwert des immer drohenden Wirtschaftskollapses. Die Gesellschaft ist in verschiedene politische, religiöse und ethnische Lager gespalten. Und die Politiker verbreiten bewusst populistische Fake News, um ihren Machterhalt zu garantieren. So nährt der ehemalige Premier Imran Khan das Narrativ, die USA hätten ihn angeblich in einem politischen Coup wegen seiner unabhängigen Außenpolitik aus dem Amt gedrängt. Und im Gegenzug wirft die neue Regierung unter Shehbaz Sharif nun Khan vor, im Militär eine Rebellion gegen sie anstiften zu wollen.

Aber Fakten spielen in Pakistan ohnehin keine Rolle. Sowohl die Regierung als auch die Opposition erzeugen bewusst eine Polarisierung der öffentlichen Meinung, um mehr Stimmen bei den nächsten Wahlen zu erhalten. Dafür sind ihnen alle Mittel recht. Mal wird hierfür die Religionskarte gespielt und gegen Minderheiten wie die Ahmadiyya gehetzt, mal wird dafür die alte Karte des Antiamerikanismus wieder hervorgeholt.  

Fehlende Devisen, schlechte Verwaltung und Vetternwirtschaft bringen Pakistan immer wieder an den Rand des Kollapses. Wären das nicht schon genug Probleme wirkt sich mittlerweile auch der Klimawandel immer zerstörerischer aus. Während des diesjährigen Monsunregens wurden neben Großstädten wie Karachi auch große Teile der wenig entwickelten Provinz Belutschistan überflutet, mit verheerenden Folgen. Ganze Dörfer und Landstriche gingen in den Fluten unter.

Von den liberalen Ideen des Gründers weit entfernt

Tausende Menschen verloren ihr ganzes Hab und Gut. Der schlecht ausgerüstete Katastrophenschutz versagte vollkommen und angesichts der Größe der überschwemmten Fläche war der Rettungseinsatz des Militärs nicht ausreichend, um allen Menschen in Not helfen zu können. Dennoch wird in den vielen Polit-Talkshows der pakistanischen TV-Sender zur besten Sendezeit in einer unendlichen Schleife ein Zirkus von streitenden Politikern gezeigt, die über Fragen diskutieren, die an den alltäglichen Problemen der Mehrheit der Bevölkerung vorbeigehen. 

Soldaten der pakistanischen Armee retten Einwohner in der Provinz Punjab; Foto: Shahid Saeed Mirza/AFP
Soldaten der pakistanischen Armee retten Opfer von Überschwemmungen. Mittlerweile wirkt sich auch der Klimawandel in Pakistan immer zerstörerischer aus. Während des diesjährigen Monsunregens wurden neben Großstädten wie Karachi auch große Teile der wenig entwickelten Provinz Belutschistan überflutet, mit verheerenden Folgen. Ganze Dörfer und Landstriche gingen in den Fluten unter. Tausende Menschen verloren ihr ganzes Hab und Gut. Der schlecht ausgerüstete Katastrophenschutz versagte vollkommen und angesichts der Größe der überschwemmten Fläche war der Rettungseinsatz des Militärs nicht ausreichend, um allen Menschen in Not helfen zu können. Derweil diskutieren die Politiker in den Talkshows der pakistanischen TV-Sender zur besten Sendezeit in einer endlosen Schleife über Fragen, die an den alltäglichen Problemen der Mehrheit der Bevölkerung vorbeigehen. 



In einer derart aufgeladenen Stimmung haben moderate und lösungsorientierte Ansätze kaum eine Chance, gehört zu werden. Als vor einigen Wochen der weltbekannte Wirtschaftsexperte Atif Mian eine umfassende Analyse der pakistanischen Wirtschaftspolitik präsentierte und Lösungsansätze für die marode Wirtschaft vorschlug, entlud sich in den sozialen Netzwerken ein Sturm des Hasses gegen ihn. Nicht wegen seiner Expertenmeinung, sondern wegen seiner Religionszugehörigkeit. Der Wirtschaftsexperte ist ein bekennender Ahmadi-Muslim.  

Am 75. Jahrestag seiner Gründung ist Pakistan weiter denn je von den liberalen Idealen seines Gründers Jinnah entfernt. In der offiziellen Geschichtsschreibung oder in den Lehrplänen an den Schulen wird verschwiegen, dass die Gründungsväter Pakistans vielfach selbst religiösen Minderheiten angehörten. Bekanntlich war Jinnah ein Schiit, der Präsident der Muslim League, Agha Khan, ein Ismailit und der Verfasser der bekannten Pakistanresolution, Zafrullah Khan, ein Ahmadi. Diese Vielfalt ist schon lange untergegangen. Die pakistanische Gesellschaft wird zusehends radikaler, sie ist gespaltener und chaotischer und es ist kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen.  

Die "Hinduisierung" Indiens

Im Nachbarland Indien sieht es nicht viel besser aus. Im 75. Jahr seiner Unabhängigkeit ist die indische Gesellschaft entlang religiöser Identitäten polarisiert. Besonders die muslimische Minderheit von über 180 Millionen Menschen bekommt von Tag zu Tag mehr ihre Marginalisierung zu spüren. Längst hat eine "Hinduisierung“ der "weltgrößten Demokratie“ begonnen. Angefangen hatte alles mit der Stürmung und Zerstörung der historischen Babri-Moschee in Ayodhia im Jahr 1992 durch einen von der hindunationalistischen Partei BJP angeführten Mob.



Hindu-Nationalisten forderten damals den Bau eines Tempels auf dem Gelände der Moschee, welche nach ihrer Überzeugung auf dem Geburtsplatz des Gottes Rama stand. Bevor aber die Behörden oder Richter eine Entscheidung treffen konnten, zerstörte der Mob das Gotteshaus. Die religiöse Polarisierung der Gesellschaft brachte 1998 die BJP in die Regierung. 2020 legte der jetzige Premier Modi am Ort der zerstörten Moschee den Grundstein für eine neue Tempelanlage. Rechtsradikale Hindus haben in den letzten Jahren konsequent das Narrativ genährt, ihre Identität sei verdrängt worden. Eine Umorientierung in Schulcurricula, in der Gedenkkultur oder der Geschichtspolitik solle dies wieder rückgängig machen. Die über tausendjährige muslimische Prägung der indischen Kultur wird als ein Eingriff von Eindringlingen abgetan.

Dieser müsse, so die Fanatiker, jetzt "korrigiert“ werden. "Korrektur“ ist ein Euphemismus für die komplette Verdrängung der muslimischen Kultur, Identität und unter Umständen auch der muslimischen Bevölkerung. Plötzlich werden muslimisch klingende Städtenamen in "hinduistische“ umbenannt, so wurde der Name der Stadt Allahabad in Prayagraj umgeändert und aus der Stadt Gulshanabad wurde Nashik. Oder Ortsschilder in Urdu werden übermalt.

 

 

Zunehmend islamophobe Stimmung 

Dass diese Namensänderungen nicht in historischen Tatsachen begründet sind, interessiert freilich niemanden. Religiöse Fanatiker aller Couleur haben es bekanntlich schwer mit der Logik. So behauptete etwa 2018 der BJP-Ministerpräsident des Bundesstaates Tripura, das Internet sei eine Erfindung der antiken Inder gewesen und wäre schon im Hindubuch Mahabharata erwähnt worden. 

In Film und Fernsehen werden Hindu-Könige für ihre "Heldentaten“ gepriesen und muslimische Herrscher als blutrünstige Aggressoren dargestellt. Die Botschaft hinter dem Framing ist eindeutig: Indien sei in erster Linie das Land der Hindus. In einem Interview sagte ein führendes Mitglied der BJP in 2015, Muslime seien in Indien Bürger zweiter Klasse, die sich gefälligst an die hinduistischen Sitten anzupassen hätten. Anfang 2022 riefen extremistische Hindu-Führer während einer Konferenz offen zum Genozid an den indischen Muslimen auf, sodass das Oberste Gericht gezwungen war, sich in die Angelegenheit einzuschalten. Zu einer derart aufgeheizten Stimmung passen auch die islamophoben Kommentare der mittlerweile abgesetzten Sprecherin der BJP, Nupur Sharma.

Ihre Kommentare führten besonders in den arabischen Golfstaaten, wichtigen Wirtschaftspartnern Indiens, zu Boykottaufrufen gegen indische Produkte. Die Versuche des indischen Außenministeriums, die Aussagen zu relativieren, konnten nicht die Tatsache verschleiern, dass innerhalb Indiens mit der Kritik ganz anders umgegangen wurde. Viele BJP-Anhänger verteidigten Sharmas Aussagen und es kam zu Vergeltungsakten gegen die Kritiker.

So rückten am 12. Juni 2022 Bulldozer aus, um das Familienhaus der 24-jährigen muslimischen Aktivistin und Kritikerin der BJP, Afreen Fatima, in Allahabad abzureißen. Einen Tag vor der Zerstörung hatte die Polizei Afreens Vater Javed vorgeworfen, der führende Kopf hinter den Prosteten gegen die islamophoben Kommentare der BJP-Sprecherin gewesen zu sein. Kurz darauf erhielt er die Aufforderung, das Haus zu räumen, da es am nächsten Tag wegen einer "fehlenden Baugenehmigung“ abgerissen werden würde.

6. Dezember 1992: Radikale Hindus zerstören mit Eisenstangen die Wände der Babri-Moschee in Ayodhya; Foto: Getty Images/AFP/D.E.Curran
Die "Hinduisierung“ Indiens: Angefangen hatte dieser Prozess mit der Stürmung und Zerstörung der historischen Babri-Moschee in Ayodhia im Jahr 1992 durch einen von der hindunationalistischen Partei BJP angeführten Mob, schreibt Mohammed Luqmann. "Hindu-Nationalisten forderten damals den Bau eines Tempels auf dem Gelände der Moschee, welche nach ihrer Überzeugung auf dem Geburtsplatz des Gottes Rama stand. Bevor aber die Behörden oder Richter eine Entscheidung treffen konnten, zerstörte der Mob das Gotteshaus. Rechtsradikale Hindus haben in den letzten Jahren konsequent das Narrativ genährt, ihre Identität sei verdrängt worden. Die über tausendjährige muslimische Prägung der indischen Kultur wird als ein Eingriff von Eindringlingen abgetan. Dieser müsse, so die Fanatiker, jetzt 'korrigiert' werden. 'Korrektur' ist ein Euphemismus für die komplette Verdrängung der muslimischen Kultur, Identität und unter Umständen auch der muslimischen Bevölkerung."

Gandhis demokratische Werte und Nehrus Säkularismus werden verdrängt

Dass das Haus dort seit über 20 Jahren stand und dafür eine Grundsteuer regelmäßig entrichtet wurde, interessierte die Beamten nicht. Genauso wenig, dass Javed gar nicht der Eigentümer der Immobilie war, sondern seine Frau. Es gab auch keine gerichtliche Anordnung für den Abriss. Innerhalb von wenigen Stunden war das Haus zerstört. Die Aktion sei, so viele Beobachter, weniger eine baurechtliche Auseinandersetzung, als vielmehr eine Racheaktion des radikalen Hindu-Premiers im Bundesstaat Uttarpardesh, Yogi Adityanath, der muslimischen Kritikern der BJP-Politik einen Denkzettel verpassen wollte. Am 11. Juni, einem Samstag, twitterte Adityanaths Sprecher ein Bulldozerbild mit der Überschrift: „Remember, every Friday is followed by a Saturday”.  Am Tag darauf zerstörten Bulldozer das Haus der Aktivistin und ihrer Familie.

Gandhis demokratische Werte und Nehrus Säkularismus werden Stück für Stück verdrängt. Stimmen, die sich für mehr Toleranz und Rechte von Minderheiten einsetzen, werden als Verräter der Hindu-Nation gebrandmarkt. Die Stimmung wird immer aggressiver, vor allem in den sozialen Netzwerken. Wiederholt kam es zu tödlichen Angriffen auf Muslime und andere religiöse Minderheiten. Der Mob, so scheint es, diktiert die Politik oder aber er wird in einem perfiden Kalkül gezielt für Stimmungsmache benutzt.  

Wären die internen Probleme beider Länder nicht schon genug, schwelt immer noch der Konflikt um die Region Kaschmir zwischen den beiden Atommächten. Die Aberkennung des Sonderstatus von Kaschmir im Jahr 2019 durch die Modi-Regierung hat den Konflikt noch verschärft. Zudem nimmt Indien in der neuen amerikanischen Eindämmungspolitik gegenüber China eine immer wichtigere Rolle ein. Das Treffen des informellen Sicherheitsbündnisses QUAD (USA, Japan, Indien, Australien) im Mai sollte ein Zeichen dafür setzen. Die Spannungen zwischen Indien und China haben in den letzten Jahren ohnehin zugenommen.  

Vor dem Hintergrund dieser Konflikte und Probleme schaut man mit gemischten Gefühlen auf den 75. Unabhängigkeitstag beider Länder.  

Mohammed Luqman

© Qantara.de 2022

Mohammad Luqman ist Islamwissenschaftler und Südasienexperte mit einem besonderen Forschungsschwerpunkt auf Pakistan.