"Islamische Menschenrechte" als Irrweg

Muslime, die sich selbst das Recht einräumen, auf der Grundlage ihrer Religion eine eigene Menschenrechtserklärung zu verabschieden, müssten dies auch den Anhängern anderer Religionen zugestehen, schreibt die iranische Friedensnobelpreisträgern Shirin Ebadi in ihrem Essay.

Essay von Shirin Ebadi

In internationalen Gremien verteidigt der Menschenrechtsbeauftragte der Islamischen Republik, Mohammad Javad Laridschani, voller Stolz die Vollstreckung "göttlicher Strafen" – darunter Amputationen der Hände von Dieben und Steinigungen.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitzen Menschen im Iran in Haft, weil sie Anhänger der Religion der Bahai sind, weil sie angeblich vom Islam zum Christentum konvertiert sind oder weil sie Frauen sind, die den Hidschab abgelegt haben. Die iranischen Gesetze, die in diesen Fällen zur Begründung herangezogen werden, werden mit der islamischen Rechtsauffassung gerechtfertigt, verstoßen aber gegen die Menschenrechte.

1990 haben die Außenminister der islamischen Länder die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam verabschiedet, die von den meisten islamischen Ländern, darunter der Islamischen Republik Iran, angenommen wurde. Wenn wir diese Erklärung als eigenen Weg der islamischen Länder bei der Umsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begreifen, dann ist sie unproblematisch. Wenn diese Länder ihre Erklärung aber als Gegenentwurf zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung verstehen, sind sie auf einem Irrweg.

Muslime, die sich selbst das Recht einräumen, auf der Grundlage ihrer Religion eine eigene Menschenrechtserklärung zu verabschieden, müssten dies auch den Anhängern anderer Religionen zugestehen. In der Folge würden eine Vielzahl von Menschenrechtserklärungen verkündet: eine jüdische, eine buddhistische und viele mehr. Dass dies nicht mit universell gültigen und einklagbaren Menschenrechten vereinbar wäre, liegt auf der Hand.

Vorbehalte atheistischer Staaten ebenso falsch

Offiziell atheistische Staaten wie China mit kommunistischen Herrschaftssystemen akzeptieren die universelle Gültigkeit von Menschenrechten ebenfalls nicht. Die Rechte seien in kapitalistischen Wertesystemen begründet und nicht mit sozialistischen vereinbar.

Oberster Verteidiger des islamischen Rechts im Iran: Justizchef Sadegh Laridschani (rechts) neben Präsident Hassan Rohani; Foto: ILNA
Recht als Unrecht: "In internationalen Gremien verteidigt der Menschenrechtsbeauftragte der Islamischen Republik, Mohammad Javad Laridschani, voller Stolz die Vollstreckung 'göttlicher Strafen' – darunter Amputationen der Hände von Dieben und Steinigungen. Während ich diese Zeilen schreibe, sitzen Menschen in Iran in Haft, weil sie Anhänger der Religion der Bahai sind, weil sie angeblich vom Islam zum Christentum konvertiert sind", so Ebadi.

Auch diese Argumentation ist falsch. Meinungsfreiheit steht nicht im Widerspruch zum Sozialismus und Kommunismus bedeutet nicht Willkürherrschaft. Es sind Diktatoren, die den Kommunismus so auffassen und umsetzen. Sowohl der Glaube an Gott als auch der Glaube, dass es Gott nicht gibt, sind zu Vorwänden für die Unterdrückung von Menschen geworden.

Die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen haben ihr Hauptaugenmerk auf Bürgerrechte und politische Rechte gelegt. Den Sozial- und Wirtschaftsrechten wurde nicht genügend Beachtung geschenkt - es ist einer der Gründe für die Ausbreitung von Armut auf der Welt. Deshalb finden die Menschenrechte bei der Bevölkerung im globalen Süden nicht die nötige Beachtung, und undemokratische Regierungen können diese Rechte missachten.

Auch das ineffiziente Wirken der Vereinten Nationen, insbesondere des Menschenrechtsrats, hat echte Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte in den vergangenen 70 Jahren verhindert. Bei der Abfassung der UN-Charta war man zu optimistisch, dass die meisten Staaten die Unterstützung ihrer Bürger genössen und daher als Interessenvertreter ihrer Wähler mögliche Menschenrechtsverletzungen aufklären und beseitigen würden.

Plädoyer für eine globalisierte Justiz

Doch viele Regierungen sind keine gewählten Vertreter ihrer Bürger und Forderungen der Weltöffentlichkeit nicht nachkommen. Wie können wir also von Ländern, die selbst wiederholt und andauernd gegen die Menschenrechte verstoßen haben, erwarten, dass sie Menschenrechtsverstöße in anderen Ländern anprangern? Denken wir nur an die Mitgliedschaft von Ländern wie Saudi-Arabien und Syrien im Menschenrechtsrat.

Die Menschenrechte werden so lange einen schweren Stand haben, solange diejenigen, die sie verletzen, straffrei bleiben können. Die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs ist auf seine Mitgliedsländer beschränkt. Deshalb müssen neue Wege zur Bestrafung von Tätern gesucht werden. Wenn Gerichte vor Ort nicht in der Lage sind, für Gerechtigkeit zu sorgen, müssen die Länder, die den Menschenrechten verpflichtet sind, den Opfern zu Hilfe kommen und ihnen die Möglichkeiten geben, ihre Klagen vorzubringen.

Es ist also an der Zeit, auch über eine Globalisierung der Gerechtigkeit zu sprechen. Personen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, müssen in anderen Ländern zur Rechenschaft gezogen werden können. Die Globalisierung wird nur dann ein Erfolg werden, wenn es gelingt, auch die Justiz zu globalisieren.

Shirin Ebadi

© Deutsche Welle 2018

Übersetzt aus dem Persischen von Eskandar Abadi