Der bescheidene Gelehrte von Qom

Der schiitische Gelehrte Allamah Tabatabayi engagierte sich bis zu seinem Lebensende für eine Wiederbelebung der intellektuellen Tradition im Schiismus. Der herausragende Philosoph ist im Westen kaum bekannt. Ein Porträt von Marian Brehmer.

Von Marian Brehmer

“Die Botschaft des Schiitentums besteht aus einem Satz, mehr nicht: Kenne Gott”, soll Allamah Seyyed Mohammad Hossein Tabatabayi einmal gesagt haben. Diese Aussage mag überraschen, schließlich ist die schiitische Mystik bei uns so gut wie vollkommen unbekannt. Allamah Tabatabayi (“Allamah” bedeutet so viel wie “großer Gelehrter”) war einer der bedeutendsten iranischen Mystiker und Philosophen der Moderne — vielleicht sogar der größte, den Persien im vergangenen Jahrhundert hervorgebracht hat.



Heute erinnert in Teheran die 1984 gegründete Allameh-Tabatabayi-Universität, die größte Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften des Landes, an den schiitischen Gelehrten. Auf Deutsch jedoch lässt sich über das Wirken des Denkers, dessen Tod sich am 15. November zum vierzigsten Mal jährt, kaum Literatur finden.

Eine Erklärung könnte lauten: Lange Zeit richtete die westliche Islamforschung ihr Augenmerk vor allem auf sunnitische Strömungen in der islamischen Mystik. Das liegt auch daran, dass Europäer an den Grenzen ihres Kontinents in erster Linie mit Sunniten in Berührung kamen, ob im Maghreb oder im Osmanischen Reich. Erst durch das Werk des französischen Philosophen und Iranisten Henry Corbin (1903-1978) wurden westliche Forscher in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit schiitischer Geisteslehre bekannt.

Einer der wichtigsten Mentoren Corbins war Tabatabayi, dessen umfangreiches Lebenswerk an die Produktivität islamischer Universalgelehrter aus der goldenen Periode der islamischen Geisteswissenschaften erinnert. Tabatabayi kam 1903 im westiranischen Täbris in einer Familie von seyyeds — also Nachfahren des Propheten — zur Welt, aus der über 14 Generationen von namhaften Theologen und Denkern hervorgegangen waren.

In Täbris lernte Tabatabayi Arabisch und eignete sich die Grundlagen schiitischer Theologie an. Darauf folgten Studienjahre an der renommierten schiitischen Universität von Najaf, deren Schwerpunkt traditionell auf dem fiqh, der islamischen Rechtslehre, liegt. Mit dieser Ausbildung war Tabatabayi dafür prädestiniert, als schiitischer Rechtsgelehrter Karriere zu machen. Doch er sollte einen anderen Pfad einschlagen.

Studenten in einem Seminar der "Hawza"-Hochschule in Nadschaf, Februar 2020; Foto: picture-alliance/AP Photo/H.Mizban
Schiitische Studenten in einem Seminar der "Hawza"-Hochschule in Nadschaf. Schiitische Mystik ist im Westen so gut wie unbekannt, genauso wie Allamah Tabatabayi, einer der bedeutendsten iranischen Mystiker und Philosophen der Moderne — vielleicht sogar der größte, den Persien im vergangenen Jahrhundert hervorgebracht hat. Auf Deutsch jedoch lässt sich über das Wirken des Denkers, dessen Tod sich am 15. November zum vierzigsten Mal jährt, kaum Literatur finden.

Während des Studiums kristallisierte sich heraus, worin Tabatabayis Leidenschaft lag. Er vertiefte sich in die islamische Philosophie und die mystisch-intellektuelle Tradition der Schia, die zu großen Teilen auf dem Denken des persischen Philosophen Mullah Sadras (1572–1641) beruht.  Tabatabayi hat Mullah Sadars intensiv studiert, den der amerikanische Philosophieprofessor Oliver Leaman einmal als wichtigsten und einflussreichsten Philosophen der muslimischen Welt in den letzten vierhundert Jahren bezeichnete.

Einweisung in die “direkte Wissenschaft”

Besonders prägend war für Tabatabayi jedoch die geistige Schulung unter seinem 35 Jahre älteren Cousin Mirza Qadi, der ebenfalls als schiitischer Gelehrter in Najaf wirkte. Qadi wies Tabatabayi in die praktische Gnosis ein, jene “direkte Wissenschaft”, in der Wissen durch unmittelbare Erfahrung erlangt wird. Im Laufe dieser mystischen Erziehung, in deren Mittelpunkt die spirituelle Praxis mit langen Phasen von Fasten, Gebet und Schweigen steht, eröffneten sich Tabatabayi tiefere Dimensionen jener Werke, die er zuvor nur studiert hatte — etwa Ibn Arabis Fusus Al-Hikam (Die Weisheit der Propheten), ein zentrales Meisterwerk des Sufismus.

Tabatabayi verstand diese innere Erforschung als den Kern von Religion: “Die Erkenntnis Gottes und die Erkenntnis des Selbst sind nicht getrennt voneinander; denn jemand, der seine eigene metaphorische Existenz kennt, der hat die wahre Existenz Gottes erkannt.”

Im Alter von 31 Jahren kehrte Tabatabayi nach Täbris zurück, wo er einige Jahre unterrichtete. Später, nach den Unruhen des Zweiten Weltkriegs, ließ er sich in Qom nieder, bis heute das Zentrum religiöser Studien im Iran. In Qom begann Tabatabayi, Koranexegese und traditionelle islamische Philosophie zu lehren. Sein Bestreben war, junge Studenten, die durch die Bekanntschaft mit dem zeitgenössischen europäischen Denken in Konflikt mit der islamischen Tradition gelangt waren, zurück an die intellektuellen Ursprünge ihrer eigenen Kultur zu führen.

Historische Zeichnung Ibn Arabis; Foto: Arab 48
Der große arabische Mystiker Ibn Arabi (1165 -1240) und seine Schrift Fusus Al-Hikam (Die Weisheit der Propheten), ein zentrales Meisterwerk des Sufismus, haben Tabatabayi wesentlich inspiriert. Doch der schiitische Gelehrte hat diese Schriften nicht nur theoretisch rezipiert. In einer spirituellen Praxis mit langen Phasen von Fasten, Gebet und Schweigen eröffneten sich Tabatabayi tiefere Dimensionen jener Werke, die er zuvor nur studiert hatte. Diese innere Erforschung verstand er als den Kern von Religion: “Die Erkenntnis Gottes und die Erkenntnis des Selbst sind nicht getrennt voneinander; denn jemand, der seine eigene metaphorische Existenz kennt, der hat die wahre Existenz Gottes erkannt.”

Auf Grundlage dieser Absicht bildete sich um Tabatabayi ein Studienkreis, der das Ziel verfolgte, den westlichen Materialismus zu widerlegen und Ideologien der Moderne, darunter dem Marxismus, argumentativ zu begegnen. Einige Teilnehmer dieses Kreises sollten später wichtige Rollen in der Islamischen Revolution von 1979 spielen.

Außergewöhnliche Bescheidenheit

Mit seinem Fokus auf traditioneller Philosophie war Tabatabayi in Qom zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine Ausnahmegestalt. Auch seine außergewöhnliche Bescheidenheit wird in den Berichten von Zeitgenossen herausgestellt: So pflegte Tabatabayi etwa, das Pronomen “ich” sowohl im Persischen, als auch im Arabischen zu vermeiden. Zudem weigerte er sich, als Vorbeter vor Anderen das Gebet zu leiten. Schickte sich jemand an, seine Hand zu küssen, wie das sonst als Zeichen der Ehrerbietung gegenüber Geistlichen üblich war, zog er diese rasch in den Ärmel seines Umhangs zurück.

So erinnert sich Hossein Nasr, Professor für Islamwissenschaft an der George Washington Universität in den USA, der manchmal als Übersetzer für Tabatabayi diente:

“Seine anziehende Persönlichkeit und spirituelle Präsenz zogen bald einige der intelligentesten und fähigsten Studenten zu ihm (…). Ich erinnere mich noch lebhaft an einige seiner öffentlichen Vorlesungen in einer der Moschee-Madressen von Qom, wo fast vierhundert Studenten zu seinen Füßen saßen, um seine Weisheit in sich aufzusaugen.”

Tabatabayi führte auch in Teheran einen wöchentlichen Studienkreis, an dem neben dem Franzosen Henry Corbin, damals Leiter des Französischen Instituts für Iranstudien, eine Gruppe iranischer Intellektueller teilnahm. Hier wurden neben der Diskussion spiritueller und intellektueller Fragen auch mystische Texte anderer Traditionen studiert und mit der eigenen verglichen, darunter etwa das Tao Te Ching, die Upanischaden und das Johannes-Evangelium.

Allamah Tabatabayi hat insgesamt über vierzig Bücher geschrieben. Seine größte Leistung ist der Tafsir al-Mizan, ein zwanzigbändiger Korankommentar in arabischer Sprache, den manche als göttlich inspiriertes Werk beschrieben haben. Der Tafsir al-Mizan folgt der Methodik, wie Tabatabayi es beschreibt, “den Koran durch den Koran zu interpretieren”.

Den Koran für sich selbst sprechen lassen

Dieser Lesart liegt die Erkenntnis zugrunde, dass jeder Teil des Koran dazu dienen könne, den Sinn des heiligen Buches als Ganzem aufzuzeigen. Tabatabayi bemüht sich in seinem Kommentar, die Wörter jedes Verses genau zu untersuchen und mit anderen, inhaltlich ähnlichen Versen zu vergleichen. Der Koran soll dabei für sich selbst sprechen und der Kommentator in den Hintergrund rücken, ohne dass er seine eigene Agenda oder Konzepte auf den Text projiziert.

Am politischen Kampf der Schia, der zum Sturz des Schah und zur Errichtung der Islamischen Republik führte, beteiligte sich Tabatabayi nicht. Zwar finden sich in seinen Schriften Überlegungen zu Formen von islamischer Herrschaft, doch blieben diese philosophischer Natur und verfolgten keine ideologische Agenda. Tatsächlich war Tabatabayi zu Ausbruch der Revolution bereits zu geschwächt, um sich aktiv daran zu beteiligen — er zog sich zu Lebensende immer stärker in Gebet und Meditation zurück. Einige seiner Schüler jedoch, darunter Ayatollah Morteza Motahhari, beteiligten sich an den Fronten der Revolution und kamen bei politischen Attentaten ums Leben.

Tabatabayis Einfluss ist also geistig und nicht politisch; seine Gedanken übten einen bleibenden Einfluss in traditionellen und modernen intellektuellen Zirkeln Irans aus. Tabatabayi sah seine Aufgabe darin, eine neue intellektuelle Elite unter den gebildeten Schichten zu bilden, die mit den Wurzeln islamischer Intellektualität vertraut war und der modernen Welt mit ihrem materialistischen Fortschrittsdenken etwas entgegenzusetzen wusste.

Tabatabayi verstarb 1981 im Kreis seiner engsten Schüler und liegt im Schrein der Fatima Ma’suma, dem zentralen schiitischen Heiligtum von Qom, begraben. Angesichts des aufgeheizten politischen Klimas der letzten Jahrzehnte scheint Tabatabayis Erbe heute wie ein Relikt aus einer anderen Ära. Sein Lebenswerk kann uns, wie Nasr argumentiert, einen Eindruck von jener intellektuell-mystischen Tradition vermitteln, die in der Schia über Jahrhunderte existierte: ”Er steht als Symbol für das, was in der langen Tradition der islamischen Gelehrsamkeit und Wissenschaft am dauerhaftesten ist (…). In seiner Person verkörpert er den Edelmut, die Bescheidenheit und das Streben nach Wahrheit, die die besten muslimischen Gelehrten über die Jahrhunderte hinweg ausgezeichnet haben.”

Marian Behmer

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