Eine virtuelle Klangreise über den Balkan

Zum ersten Mal findet wegen der Corona-Pandemie das Morgenland Festival Osnabrück per YouTube statt - und nimmt uns gleichzeitig musikalisch in neue Kulturräume mit. Marian Brehmer hat sich einige virtuelle Konzerte angesehen.

Von Marian Brehmer

Glocken läuten und die Kamera fliegt per Drohne auf ein weißes, mit filigranen Kuppeln überdachtes Kloster zu, während im Hintergrund ein blauer Streifen der Donau zu sehen ist. Dann ertönen im Inneren des serbisch-orthodoxen Vavedenje-Klosters Gesänge, die fast zwei Jahrtausende alt sind. Begleitet vom Gesangsensemble "Melódi" hallt Divna Ljubojevićs ätherische Stimme, die von manchen Rezensenten als "engelsgleich" gelobt wird, gut dreißig Minuten lang durch den Raum des Gotteshauses, während das Bild über brennende Kerzen und goldverzierte Ikonen schwenkt.

Die alten Rezitationen der Ostkirche sind eines der Elemente, aus denen sich das Gewebe des diesjährigen Morgenland Festivals zusammensetzt, diesmal ganz im Zeichen der Musiktraditionen des Balkans stehend. Ljubojević ist in ihrer Heimat Serbien ein bekannter Name: Die Fünfzigjährige begann Anfang der neunziger Jahre in dem Belgrader Kloster damit, jeden Samstag aus den altchristlichen Liturgien zu singen und damit eine in Vergessenheit geratene Musiktradition in ihrer Heimat wieder zu beleben. Ljubojević unterrichtet seit den neunziger Jahren Chor- und Kirchenmusik und war dabei nach dem Zerfall Jugoslawiens Teil der geistigen Renaissance in dem Balkanstaat.

Spirituelle Musik - ohne Instrumente

Die byzantinischen Gesänge stellen eine zutiefst spirituelle Musik dar, die ganz ohne Instrumente auskommt und dabei ihren Fokus auf die klanglichen Möglichkeiten der menschlichen Stimme richtet. So fühlt sich der Zuschauer an diesem Abend der Sommersonnenwende, auf dem dritten Konzert des Morgenland Festivals, in ferne Jahrhunderte zurückversetzt, unmittelbar in das archaisch-sakral anmutende Zeitalter des alten Byzanz. Nur, dass das Festival selbst diesmal ganz auf Technik aus dem 21. Jahrhundert angewiesen ist.

Denn bereits Anfang März war dem Gründer und Festivaldirektor Michael Dreyer klar, dass es im Juni - im niedersächsischen Osnabrück traditionell "Morgenland-Monat" - keine Live-Konzerte geben könne. Das Festival befand sich gerade in den letzten Vorbereitungen, als die Corona-Pandemie so grundlegend das kulturelle Leben in weiten Teilen der Welt veränderte.

Den Organisatoren war es jedoch trotz, oder gerade wegen der Pandemie ein Anliegen, allen engagierten Musikern einen Auftritt und damit auch die Bezahlung zu ermöglichen. Kaum eine Berufsgruppe trifft COVID-19 schließlich international so hart wie die freischaffenden Künstler - zumal es in den meisten Ländern keine Hilfspakete für selbstständige Kulturschaffende gegeben hat, wie in Deutschland. So entschied man sich für eine Online-Ausgabe, gefolgt von einer abgespeckten Live-Edition, die vom 2. bis 6. Dezember 2020 stattfinden soll.

Das Konzept für das Web-Festival: Die Musiker haben in ihren Heimatländern an für sie bedeutsamen Orten Videos aufgenommen, die dann vom Festival-Team zu kleinen Filmen verarbeitet wurden. Diese virtuellen Konzerte werden noch bis zum 27. Juni jeweils um 19 Uhr auf dem YouTube-Channel des Festivals ausgestrahlt. Rund 16.000 Zuschauer hat das Festival in den ersten Tagen so bereits erreicht.

Von einer Notlösung zu einem eigenständigen Format

"Es begann ein wenig als Notlösung, aber mittlerweile habe ich diese Online-Edition sehr lieben gelernt", sagt Dreyer zu dem neuen Format. Im letzten Jahr beging das Morgenland Festival sein 15-jähriges Bestehen, das gefeiert wurde von einer internationalen Familie aus Künstlern, und Musikliebhabern, die sich über die Jahre um das Festival gebildet hat.

Der Name "Morgenland" steht in Europa in seiner Ausstrahlungskraft und Reichweite als nahezu einzigartiges Symbol für den klischeefreien musikalischen Blick gen Osten. Dabei geht es ebenso um den Versuch, östliche und westliche Musikkulturen auf eine Weise zusammenzuführen, welche die Schönheiten und Wunder beider Seiten beibehält und dabei einen neuen Raum des Gemeinsamen jenseits von geografischen und ethnischen Kategorien erschafft.

Das ist dem Festival etwa durch die Schaffung der "Morgenland All Star Band" gelungen, die Musikgrößen des Vorderen Orients wie dem syrisch-armenischen Sänger Ibrahim Keivo mit europäischen Jazz- und Rock-Künstlern zusammenbringt.

Neue Gesichter und Musik präsentieren

Dabei bewegte sich das Festival in immer wieder neuen Gewässern. Die Stadt Osnabrück blieb stets ein Fixpunkt, aber Projekte reichten von der viel beachteten Aufführung der Johannes-Passion in Teheran im Jahr 2008 bis hin zu Gigs an Orten wie dem Saygun-Kunstzentrum in Izmir, der Gulbenkian Foundation in Lissabon, der Philharmonie in der kasachischen Hauptstadt Almaty oder einem Konzert in der Bekaa-Ebene im syrisch-libanesischen Grenzgebiet. Dabei entstanden musikalische Freundschaften und Formationen, die über die Jahre anhielten und sich zu Dauerbrennen des Festivals entwickelten.

Zur diesjährigen Ausgabe erklärt Dreyer: "Ich hatte das Gefühl, dass wir mal einen Cut machen müssen im Festival und wirklich nur neue Gesichter und Musik präsentieren." Der Blick auf den Balkan war da naheliegend. Denn dieser teile gemeinsam mit dem "Orient" das Schicksal einer arg reduzierten und oft mit Klischees behafteten Darstellung.

"Balkans Beyond Brass" heißt deshalb das Motto des 16. Morgenland Festivals, welches anspielt auf das weit verbreitete Klischee, dass Balkanmusik nur aus fetzigen Blechensembles bestehe. Diese urtypische Brassmusik werde zurecht gefeiert, betont Dreyer. Aber es ertönten doch noch so viel mehr Klänge aus dieser Region, die Beachtung verdient hätten.

Beständig Klischees aufbrechen

Und schließlich wäre das Morgenland Festival nicht das Morgenland Festival, wenn es nicht beständig Klischees aufbrechen würde. Den Festivalauftakt etwa machte ein Duo, bestehend aus der stimmgewandten bosnischen Sängerin Jelena Milušić und der äußerst gefühlvollen Akkordeonspielerin Merima Ključo, die aus Sarajewo Liebeslieder aus den rumänischen, kroatischen, kosovarischen und sephardischen Gesangstraditionen vortrugen.

Ihr Auftritt in einem Franziskanerkloster unter dem Motto "Lume" vermittelte sogleich einen Vorgeschmack für den Farbenreichtum der Volksmusiktraditionen der Länder zwischen Mitteleuropa und Anatolien, den das Festival transportieren will. Der Begriff "Lume" trägt in sich eine breite semantische Palette, die symbolisch für den Kulturreichtum des Balkan steht: In verschiedenen Sprachen bedeutet das Wort etwa Welt, Leben, Lichtquelle, Illusion, Feuer, Funke oder Liebender.

Die Vielfalt des Balkans ließe sich schon daran festmachen, so Dreyer, dass im Englischen für diese Region der Plural verwendet wird ("the Balkans"). "Natürlich ist dies eine ungemein multiethnische, multikulturelle Region. Wo immer so viele Einflüsse zusammen kommen, wird kulturelle Energie freigesetzt."

Diese Buntheit in der Geschichte der musikalischen Interaktion auf die Bühne zu bringen, ist wichtig, besonders vor dem Hintergrund der in manchen Kapiteln blutigen Historie, aber auch angesichts der grassierenden Tendenzen zu Nationalismus und Kleingeistigkeit, die sich zurzeit in der Welt beobachten lassen. Man kann also nur von Glück reden, dass es eine so wichtige Konstante in der deutschen Kulturlandschaft wie das Morgenland Festival durch die Krise geschafft hat und somit weiterhin für unseren Zeitgeist wichtige Impulse setzen kann.

Marian Brehmer

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