Abschied vom politischen Islam?

Der jüngste Ennahda-Parteitag im tunesischen Hammamet markiert sowohl in seiner Symbolik wie im neuen Sprachgebrauch der Partei den Abschied vom politischen Islam zugunsten einer muslimischen Demokratie. Von Ivesa Lübben

Von Ivesa Lübben

Auf der durch das tunesische Fernsehen direkt übertragene Eröffnungsveranstaltung in der Olympischen Halle in Rades inszenierte sich Ennahda vor mehr als 10.000 Anhängern und Gästen durch das gemeinsame Singen der Nationalhymne und durch das symbolische Entrollen einer überdimensional großen tunesischen Flagge als nationale Kraft des maghrebinischen Landes.

"Tunesien ist wichtiger als Ennahda", erklärte Parteichef Rachid al-Ghannouchi in seiner Eröffnungsrede und erwies den Märtyrern von Polizei und Armee, die im Kampf gegen den Terrorismus gefallen sind, die Ehre genauso wie den Märtyrern der Revolution und des Kampfes gegen die Ben-Ali-Diktatur.

Rachid al-Ghannouchi beschwor immer wieder die Notwendigkeit der Einheit Tunesiens im Kampf gegen Terrorismus und für den wirtschaftlichen Wiederaufbau und stellte sich dabei in die Tradition solch umstrittener Persönlichkeiten wie den Reformdenker Khair al-Din al-Tunisie, Tunesiens Staatsgründer Habib Bourguiba und seinen Widersacher Saleh Ben Youssif sowie den Kommunisten und Gewerkschaftsgründer Ferhat Hachad. Zweifelsohne ein Indiz dafür, dass die islamische Ennahda versucht, ihren Platz in der Mitte der tunesischen Gesellschaft finden.

Der Höhepunkt der Eröffnungsveranstaltung war der von den Ennahda-Parteimitgliedern frenetisch bejubelte Auftritt von Staatspräsident Béji Caïd Essebsi, der seinerseits die Bemühungen Rachid al-Ghannouchis zur Herstellung der nationalen Einheit lobte, jedem totalitären Islamverständnis eine Abfuhr erteilte und Ennahda dazu aufforderte, nunmehr unter Beweis zu stellen, dass sie sich in eine zivile demokratische tunesische Partei verwandelt habe.

"Koalition der beiden alten Herren" in der Kritik

Es war das Geheimtreffen zwischen dem ehemaligen Bourguiba-Vertrauten und Ennahda-Gegner Essebsi im August 2013 in Paris gewesen, das in der Zeit der Verfassungskrise den Weg zum Nationalen Dialog frei machte und damit Tunesien - trotz des anhaltenden inneren und äußeren Drucks - ein ähnliches innenpolitisches Szenario ersparte wie Ägypten.

Ennahda-Anhänger in Tunis; Foto: picture-alliance
Meilenstein für Tunesiens islamische Demokratie: Nach aktuellen Erhebungen befürworten über 70 Prozent der Tunesier eine Trennung von Staat und Religion, was sich auch auf den 10. Parteitag der islamischen Ennahda auswirkte: So soll die Partei ihre religiöse und zivilgesellschaftliche Arbeit künftig von der Politik zu trennen.

Die "Koalition der beiden alten Herren" blieb nicht ohne Kritik an der Basis und im Ennahda-Umfeld. So gab es Befürchtungen, dass sich auf der Basis dieses Elitenkompromisses Netzwerke des alten Regimes rekonstituieren und der Prozess der Rehabilitierung der Opfer der Vorgängerregime auf der Strecke bleiben könnte. Aus diesem Grund hatte auch der ehemalige Koalitionspartner der Ennahda, Ex-Präsident Moncef Marzouki, die Einladung zum Ennahda-Kongress ausgeschlagen.

Der 10. Parteitag war ursprünglich als außerordentlicher Parteitag geplant, auf dem das Verhältnis zwischen religiöser Mission (Da'wa) und Politik geklärt werden sollte. Die islamische Ennahda hatte sich 1981 ursprünglich unter dem Namen Mouvement de la Tendence Islamique (MIT) als religiöse Erneuerungsbewegung gebildet, deren Ziel es war, die islamische Identität Tunesiens gegen die laizistische Politik von Staatsgründers Bourguiba und dessen Nachfolger Ben Ali zu verteidigen. Unter Ben Ali wurde Ennahda schließlich verboten. Erst nach der Revolution von 2011 konnte ihre Führung nach Tunesien zurückkehren und sich in den politischen Prozess integrieren.

Heute ist die Partei mit ihren rund 80.000 bis 100.000 Mitgliedern die mitgliederstärkste politische Kraft im Land und stellt nach dem Auseinanderbrechen von Nidaa Tounes mit 67 Abgeordneten die stärkste Parlamentsfraktion. Die Partei ist gegenwärtig mit einem Minister an der Koalitionsregierung beteiligt.

Loutfi Zitoun, der politische Berater von Al-Ghannouchi, hatte schon im Juni 2015 in einem Interview mit der tunesischen La Presse eine Trennung von Religion und Politik in Tunesien gefordert. Dies war jedoch auf den Protest der Basis und konservativer Ennahda-Kader gestoßen, die befürchteten, dass die Partei durch eine strikte Trennung von Da'wa und Politik ihre Identität und damit den inneren Kitt, der die Bewegung in Zeiten der Illegalität zusammengehalten hatte, verlieren würde.

In intensiven parteiinterne Debatten bildete sich schließlich ein Konsens heraus, der im Sprachgebrauch der "Spezialisierung" mündete: Die "Spezialisierung" sei nicht als Spaltung der Bewegung, sondern als eine Form der Arbeitsteilung zu verstehen. Jedes Parteimitglied sei dazu aufgerufen, sich entsprechend seinen Interessen und Fähigkeiten in sozialen, kulturellen oder religiösen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu engagieren, die von der Partei unabhängig sind.

Eine demokratische Partei mit islamischer Referenz

In einer modernen Demokratie käme der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle als Korrektiv der Politik zu, heißt es in der Beschlussvorlage zum Parteitag. Damit passt sich Ennahda auch an die neue Gesetzeslage des Landes an, die sie selber in der Verfassungsgebenden Versammlung mitgestaltet hat. Die neue Verfassung räumt einerseits der Zivilgesellschaft weitreichende Mitgestaltungsmöglichkeiten bei politischen Entscheidungen ein, andererseits sieht sie eine konsequente Trennung zwischen Zivilgesellschaft und politischen Parteien vor. So dürfen Funktionsträger in Parteien nicht gleichzeitig Funktionen in zivilgesellschaftlichen Organisationen ausüben.

Ennahda-Chef Rachid al-Ghannouchi; Foto: REUTERS/ Zoubeir Souissi
Als Integrationsfigur unverzichtbar: "Rachid al-Ghannouchi will den Prozess der Transformation in eine politische Partei zu Ende führen und seinem Nachfolger eine starke Ennahda hinterlassen – eine Partei, die gelernt hat, mit interner Diversität umzugehen", schreibt Lübben.

In ihrem neuen Programm verabschiedet sich Ennahda vom Begriff des "politischen Islam", da dieser zu negativ konnotiert ist. Sie definiert sich stattdessen als eine "demokratische, politische Partei mit islamischer Referenz und nationalem Bezugsrahmen". Mit der Verabschiedung der neuen tunesischen Verfassung, in der der Islam als Staatsreligion festgeschrieben ist, sei die Identitätsfrage geklärt, begründete Rachid al-Ghannouchi dies in seiner Eröffnungsrede. Es ginge jetzt darum, die Werte der Verfassung in konkrete Entwicklungsprogramme zu übertragen. Nur so könnten die Errungenschaften der Revolution festgeschrieben werden: "Ennahda ist entstanden, um die Identität zu verteidigen, sie hat die demokratische Transition gewährleistet und konzentriert sich heute auf die Wirtschaftsreform."

Trotz des offiziellen Abschieds vom politischen Islam bekennt sich die Partei weiterhin zu einem holistischen Islamverständnis auf der Basis der sogenannten maqasid (der höheren Ziele der Scharia) sowie auf einen Kanon von islamischen Werten, auf die sich das Programm der Partei stützt.

Am kontroversesten wurde wider Erwarten nicht über das neue Selbstverständnis der Partei diskutiert, sondern über die Änderungen der Statuten. Die Mehrheit der Parteitagsdelegierten hatte gefordert, dass das Exekutivbüro, das bislang durch den Vorsitzenden – also durch Rachid al-Ghannouchi – ernannt worden war, in Zukunft durch den Schurarat (Konsultativrat), das höchste auf dem Parteitag gewählte Beschlussgremium, gewählt werden solle.

Integrationsfigur Al-Ghannouchi

Hierauf erklärte Al-Ghannouchi, dass er in diesem Fall als Parteivorsitzender nicht mehr zur Verfügung stünde. Seine Begründung: Er könne die Verantwortung für die Partei nur mit einem in sich homogenen Führungskollektiv tragen. Daraufhin wurde die alte Regelung beibehalten. Offensichtlich gab es einen breiten Konsens unter den Delegierten, dass man auf Al-Ghannouchi als Integrationsfigur der Partei in der gegenwärtigen Phase nicht verzichten kann. Bei den Wahlen zum Vorsitzenden wurde er denn auch mit 800 von 1.058 Stimmen wiedergewählt.

Ivesa Lübben; Foto: privat
Ivesa Lübben ist Mitarbeiterin des Arbeitsschwerpunkts Islamismus am Lehrstuhl Politik des Nahen Ostens am Centrum für Nah-und Mitteloststudien (CNMS) der Universität Marburg.

Kritiker warfen der Partei daraufhin Doppelstandards vor. Eine Partei könne nur glaubhaft demokratisch sein, wenn sie sich auch intern demokratisiere. Doch Al-Ghannouchi geht es wohl um etwas anderes: Er will den Prozess der Transformation in eine politische Partei zu Ende führen und seinem Nachfolger eine starke Ennahda hinterlassen – eine Partei, die gelernt hat, mit interner Diversität umzugehen. Denn mit der Statutenänderung hat der Parteitag beschlossen, dass die Amtszeit des Parteivorsitzenden ausgehend vom 9. Parteitag auf zwei Amtsperioden beschränkt wird. Das bedeutet, dass mit dem 10. Parteitag das Ende der Ära Al-Ghannouchi eingeleitet wurde.

Seit 2011 hat Ennahda viele interne Konflikte zwischen den Anhängern einer nationalen Versöhnung und denjenigen, die eine konsequente Aufarbeitung der unter Ben Ali sowie in der Ära Bourguiba begangenen Verbrechen ausgefochten und überstanden. Konflikte zwischen politischen Kadern, die eine stärkere Öffnung der Partei wünschen, und dem religiösen Flügel der Partei, zwischen Anhängern marktliberaler Wirtschaftsprogramme und Kritikern der Wirtschaftsliberalisierung.

Ausschlaggebend hierfür war die Person Rachid al-Ghannouchi als Integrationsfigur der Partei, aber auch die gemeinsame Geschichte und die gemeinsamen Bezüge auf die islamische Identität. Ob Ennahda auch in Zukunft die unterschiedlichen Strömungen, die mit dem Parteitag an Konturen gewonnen haben, integrieren kann oder ob sie - ähnlich wie viele andere tunesische Parteien - in mehrere Organisationen zerfällt, bleibt indes ungewiss.

Ivesa Lübben

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