Weder Freund noch Feind

Nach Ansicht des ägyptischen Politikwissenschaftlers Taqadum Al-Khatib sollte Ägypten in Kooperation mit seinen europäischen Partnern an einer gemeinsamen Vision zur Lösung des anhaltenden Bürgerkriegs in Libyen arbeiten.

Von Taqadum al-Khatib

Diese Sicht würde allerdings voraussetzen, die ägyptische Außenpolitik von der Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate zu entkoppeln. Denn sollte Libyen tatsächlich zu einem neuen Somalia an der Westgrenze Ägyptens werden, dann wären nicht Saudi-Arabien und die Emirate davon betroffen, sondern in erster Linie Ägypten und seine nationale Sicherheit.

Seit dem Arabischen Frühling ist es zu einer Neuausrichtung der ägyptischen Außenpolitik gekommen, basierend auf einer Allianz mit der Achse derjenigen Kräfte in der Region, die in Gegnerschaft zu den revolutionären Aufstandsbewegungen stehen. Angeführt wird diese Achse von den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem saudischen Königreich. Der einst führenden Regionalmacht Ägypten kommt in dieser Allianz nur noch die Rolle eines Vasallen zu.

Dieser Wandel war mit Folgen für die außenpolitischen Interessen und die nationale Sicherheit Ägyptens verbunden, angefangen mit der 2016 erfolgten Abtretung der Inseln Tiran und Sanafir an das Königreich Saudi-Arabien, ihrer strategischen Bedeutung für die Sinai-Halbinsel und Ägyptens Sicherheit zum Trotz.

Ein regional gefärbter Stellvertreterkrieg

Kampfhandlungen in Libyen am 12. April 2019 südlich der Hauptstadt Tripolis; Foto: Getty Images
Internationalisierter Konflikt: Mittlerweile ringen in Libyen eine Vielzahl von Akteuren miteinander. Die ägyptisch-saudisch-emiratische Allianz gegen die türkisch-qatarische Allianz. Frankreich gegen Italien. Und schließlich die Agenda Russlands gegen die der USA.

Jetzt sind im Zuge der hochkomplexen Libyen-Krise erneut massive Auswirkungen auf die nationale Sicherheit Ägyptens zu erwarten. Eine bedrohliche Situation braut sich an dessen Westgrenze zusammen. Seit Beginn der Konflikts hat Ägypten, indem es sich der konterrevolutionären Achse und deren Unterstützung für General Khalifa Haftar gegen die international anerkannte Übergangsregierung angeschlossen hat, seine Chance verspielt, eine relevante Rolle bei der Lösung der Libyen-Krise zu spielen.

Eine solche bestünde darin, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und das ihm zu Verfügung stehende Arsenal an politischen Instrumenten auszuspielen, um die Lage zu deeskalieren und zu einer politischen Lösung zu gelangen.

Was derzeit in Libyen vor sich geht, ist dermaßen verworren, dass auch die internationale Gemeinschaft bislang nichts zu einer Lösung beizutragen vermochte. Die Situation vor Ort wird immer unübersichtlicher und die militärische Konfrontation eskaliert unaufhaltsam. Mittlerweile ringen in Libyen eine Vielzahl von Akteuren miteinander. Die ägyptisch-saudisch-emiratische Allianz gegen die türkisch-qatarische Allianz. Frankreich gegen Italien. Und schließlich die Agenda Russlands gegen die der USA.

Diese miteinander konkurrierenden und konträren Agenden in Libyen sind Stolpersteine auf dem Weg zu einer Lösung und zeugen von der Handlungsunfähigkeit der internationalen Gemeinschaft. Zugleich hat diese Auseinandersetzung auch die Europäische Union erfasst, von der man eigentlich erwartet hatte, dass sie zu einer Lösung würde beitragen können.

Doch der Konflikt zwischen Franzosen und Italienern mit ihren lang zurückreichenden kolonialen Ambitionen in Libyen verhindert ein entschlossenes Handeln der Europäischen Union. Denn während die französische Regierung einerseits öffentlich ihre Unterstützung für die legitime Übergangsregierung bekundet, verfolgt sie insgeheim ein anderes Ziel, indem sie die Truppen von General Khalifa Haftar und dessen militärische Operationen unterstützt. Italiens Position ist wiederum eine andere, schon allein aus Trotz gegenüber Frankreich; betrachtet es doch Libyen immer noch als seine frühere Kolonie, an die es "historische Rechte" binden.

"Gleichgewicht des Schreckens"

Der UN-Libyen-Gesandte Ghassan Salamé; Foto: Fethi Belaid/AFP
Verhaltener Optimismus: Nach der erfolgreichen Berliner Libyen-Konferenz will der UN-Libyen-Gesandte Ghassan Salamé nunmehr die Konfliktparteien zu ersten Gesprächen einladen. Dabei gehe es darum, "aus der Waffenruhe einen Waffenstillstand zu machen". Der Libyen-Gipfel wird als Startschuss eines Prozesses für einen dauerhaften Frieden in Libyen erachtet.

Dieses Zusammenprallen divergierender Interessen stand einer Lösungsfindung bisher im Wege, so dass sich die deutsche Regierung unter Führung von Bundeskanzlerin Merkel veranlasst sah, eine Reihe von Versuchen zu unternehmen, zwischen den beiden Streithähnen Frankreich und Italien zu schlichten. Bisher scheinen diese Bemühungen jedoch nicht zu fruchten. Zudem gibt es Zweifel daran, ob die Ergebnisse der Berliner Libyen-Konferenz vom 19. Januar 2020 wirklich eine langfristige Friedenslösung ebnen können und alle Konfliktparteien zufriedenstellen.

Die neuste Entwicklung ist, dass nun auch die Türkei, der ideologische Gegenspieler der "konterrevolutionären Achse", auf den Plan getreten ist und Truppen zur Unterstützung der Übergangsregierung entsendet. Diese Militärhilfe durch die Türkei ist nichts Neues, mit ihr verhält es sich nicht anders als mit den ägyptischen und emiratischen Waffenlieferungen an die Haftar-Regierung.

Die türkische Unterstützung für die Übergangsregierung ist aber nicht nur militärischer, sondern auch politischer Natur, indem sie ihr in den internationalen Gremien diplomatische Rückendeckung verschafft. In der Folge hat sich ein "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen dem Osten und dem Westen Libyens, wie auch zwischen den derzeit im Nahen Osten miteinander rivalisierenden politischen Agenden herausgebildet.

Bei alledem lässt die ägyptische Führung völlig außer Acht, dass seine nationale Sicherheit auf dem Spiel steht und Libyen sich nahtlos an sein westliches Territorium anschließt. Es verharrt in seiner von der Außenpolitik der Vereinigten Arabischen Emirate konditionierten Politik, ohne sich um ägyptische Sicherheitsbelange zu scheren.

Ein "Remake" des somalischen Modells?

Bisher hat Ägypten keinerlei klare Vision oder klaren Diskurs hinsichtlich der Situation in Libyen anzubieten. Die regimetreuen Medien verbreiten nichts weiter als einen demagogischen Diskurs, der die Bedeutung der nationalen Sicherheit und der geostrategischen Lage für die Entwicklung einer Außenpolitik und die Bestimmung ihrer Prioritäten komplett ignoriert. Viel ist in jenem Diskurs von "libyschen Institutionen" die Rede – und dies, obwohl das Land bislang noch gar nicht über wirkliche Institutionen verfügt.

Der bedrohlichste Aspekt, welcher den außenpolitischen Entscheidungsträgern in Ägypten verborgen zu sein scheint, ist dabei die Tatsache, dass es sich beim Libyenkonflikt um eine Art Remake des somalischen Modells handeln könnte – und das wäre noch schlimmer als ein Remake des syrischen Modells. Denn in Libyen kämpfen heute sogar Akteure gegeneinander, die in Syrien noch auf der jeweils selben Seite des Konflikts standen.

Libyen steuert also geradewegs darauf zu, ein zweites Somalia zu werden. Es herrscht ein ähnliches Szenario wie 1994, als der Sturm von Mohamed Farah Aidids Truppen auf die somalische Hauptstadt Mogadischu eine Zersplitterung und Auflösung des somalischen Staates zur Folge hatte.

Es wäre für Ägypten vor dem Hintergrund der inneren und äußeren Konflikte, denen es ausgesetzt ist, eine totale Überforderung, den Preis für die Existenz eines neuen Somalia (eines "failed state") an seiner Westgrenze zahlen zu müssen. Für das Land wären die Folgen katastrophal, da Rückzugsnester für extremistische Gruppen und politische Gegner entstehen würden. Gemeint ist hier vor allem der Gegner Türkei, welcher eine solche Situation ungeniert ausnutzen würde, um Ägypten unter Druck zu setzen und sich in seine nationalen Sicherheitsbelange einzumischen.

Für eine gemeinsame Friedensvision im Libyenkonflikt

Ägypten sollte sich im Einklang mit den Europäern für eine gemeinsame Lösungsfindung und Ausarbeitung einer Friedensvision für Libyen engagieren. Gerade in einer Zeit, in der sich die Beziehungen zwischen dem türkischen Präsidenten und Europa deutlich abgekühlt haben und es zu einer Art Geschacher um die Themen Migration und Grenzöffnung gekommen ist, nachdem der türkische Präsident Erdoğan Europa wiederholt damit gedroht hat, die Grenze für die Flüchtlinge zu öffnen und Europa mit ihnen zu überschwemmen.

Das ist es auch, was hinter seinen Expansionsgelüsten in Libyen steckt: Er will sich erneut ein wichtiges Portfolio unter den Nagel reißen, diesmal im Hinblick auf die illegale Einwanderung, die von den libyschen Küsten ausgeht. Diese Karte könnte er dann als politisches Druckmittel gegen die Europäer ausspielen.

Das bedeutet für Ägypten: Es sollte sich bei diesem Thema solidarisch mit den Europäern erklären, um so auf eine Lösung drängen zu können. Gleichzeitig könnte es – ausgehend von dem Prinzip, dass es in der Politik weder Freund noch Feind gibt – einen Dialog mit dem türkischen Regime über die Lage in Libyen initiieren. So könnte Ägypten eine Schlüsselrolle spielen und zu einer Beilegung des Konflikts beitragen.

Dies wird jedoch nur dann geschehen, wenn es zu einer Entkoppelung der ägyptischen Außenpolitik von der Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate kommt. Denn sollte Libyen tatsächlich zu einem neuen Somalia an der Westgrenze Ägyptens werden, dann wären nicht Saudi-Arabien und die Emirate davon betroffen, sondern in erster Linie Ägypten und seine nationale Sicherheit.

Taqadum Al-Khatib

© Qantara.de 2020

Aus dem Arabischen vom Rafael Sanchez

Der ägyptische Publizist und Politikwissenschaftler promovierte an der Princeton University und der Freien Universität Berlin. Er war zuständig für politische Kommunikation in der "Nationalen Vereinigung für Veränderung".