Zwei Jahre Haft für TikTok-Tanz: Ägyptens neuer Kampf um gute Sitten

Bisher griffen Moral-Wächter in Ägypten mal gegen Bauchtänzerinnen, Popstars oder anzügliche Liedtexte durch. Im Streit darüber, was angemessen und vertretbar ist, öffnen sie mit der beliebten App TikTok nun eine neue Front. Die ersten Urteile sind schon gefallen. Von Johannes Schmitt-Tegge.

In ihren Videos auf der Plattform TikTok macht Mauada al-Adham das, was Teenager und junge Erwachsene auf TikTok so machen: sich verkleiden, Playback singen, herumkaspern. Einmal posiert die Ägypterin mit blau gefärbten Haaren im flauschigen Haifisch-Anzug, ein andermal pflückt sie Blumen mit dem Mund. Ein Clip, bei dem sie in einer Wohnung ein paar hoch hängende Schrankfächer per Ninja-Tritt schließt, wurde sechs Millionen Mal abgespielt.

Nach westlichen Standards sind die Videos harmlos. Al-Adham, die bei der App zuletzt 3,2 Millionen Follower zählte, trägt ihre Haare offen, sie zeigt sich mit langen Fingernägeln und rotem Lippenstift. Sie ist modisch modern und teilweise figurbetont, an westlichen Normen gemessen aber keinesfalls anzüglich gekleidet. Aber nach Ansicht der ägyptischen Justiz haben Al-Adham sowie weitere Frauen - und ihre männlichen Komplizen - auf TikTok die Grenzen der guten Sitten überschritten. Sie müssen ins Gefängnis.

Zu zwei Jahren Haft und einer Geldstrafe in Höhe von 300 000 Ägyptischen Pfund (etwa 16 000 Euro) wurden die Influencerinnen Al-Adham und Hanin Hussam wegen der «Verletzung von Familienwerten» verurteilt. Die Studentin Hussam, die in ihren Videos normalerweise mit Kopftuch zu sehen ist, präsentierte auf TikTok vor allem Tanz-Moves. Vergangene Woche wurde Manar Sami zu derselben Geldstrafe sowie drei Jahren Haft verurteilt. Sie habe auf TikTok zu «Sittenlosigkeit und Ausschweifungen» angestachelt, so der Richterspruch. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

Im autoritär regierten Ägypten scheint die nächste Stufe der strafrechtlichen Verfolgung in sozialen Medien begonnen zu haben. Verurteilungen wegen regierungskritischer Inhalte auf Facebook und Twitter hatten sich seit der Machtübernahme von Präsident Abdel Fattah al-Sisi vor sechs Jahren bereits gehäuft. Seit 2017 wurden laut der ägyptischen Organisation AFTE zum Schutz von Rede- und Meinungsfreiheit außerdem mehr als 500 Websites blockiert.

Rechtliche Grundlage für die Durchgriffe ist ein Gesetz von 2018 zu Online-Kriminalität. Darunter kann jeder Beitrag im Internet, der gegen «Familienwerte und Werte der ägyptischen Gesellschaft» oder die «öffentliche Moral» verstößt, zu einer hohen Geld- oder Haftstrafe führen. So ist etwa schon ein Facebook-Kommentar für das Recht auf Abtreibung Grund genug für eine Festnahme. Konten in sozialen Medien mit mehr als 5000 Followern werden als öffentliche Websites ähnlich einer Nachrichtenseite und daher als kontrollwürdig eingestuft.

Durch vage Formulierungen in Gesetzen - Urteile fallen in Ägypten häufig auch wegen «Verbreitens von Falschnachrichten» oder «Missbrauchs von sozialen Medien» - haben Staatsanwaltschaft und Richter vergleichsweise viel Spielraum. In vergangenen Jahren wurden auch Schauspielerinnen, Schriftsteller, Popstars und Bauchtänzerinnen wegen Verstößen gegen die Moral festgenommen. Einige, die den Verfall kultureller und religiöser Werte fürchten, loben die Durchgriffe.

«Die Anklage wegen Verletzung von Familienwerten ist mehr als doppeldeutig. Sie ist bedeutungslos», sagt dagegen Lubna Darwisch von der Egyptian Initiative for Personal Rights, eine der wenigen noch im Land verbleibenden Organisationen, die sich für Menschenrechte einsetzt. «Warum werden einige Tänze als provokativ eingestuft und andere nicht? Der Staat will das Internet einerseits und Frauen andererseits kontrollieren, selbst wenn sie sich auf eine Weise verhalten, die nicht gegen irgendein bestimmtes Gesetz verstößt», sagte Darwisch der Nachrichtenseite «Mada Masr».

Weitere Urteile könnten folgen. Seit April wurden mindestens neun Frauen wegen vergleichbarer Vorwürfe festgenommen, einige von ihnen auch wegen Prostitution, die in Ägypten unter Strafe steht. Laut Darwisch stehen vor allem Frauen aus ärmeren Schichten im Visier der Staatsanwaltschaft. Für wohlhabende und einflussreiche Ägypterinnen, die im Internet ebenso modern gestylt und verspielt auftreten, scheinen bei der moralischen Zensur andere Maßstäbe zu gelten.

Die Kriminalisierung kommt zeitgleich zu einer neuen Debatte rund um sexuelle Übergriffe. Mehrere ägyptische Frauen wurden vor einigen Wochen gelobt für ihren Mut, Vorwürfe gegen einen 21 Jahre alten Wirtschaftsstudenten öffentlich zu machen. Ihre Instagram-Beiträge führten zu seiner Festnahme und Ermittlungen in einem Land, in dem  iner UN-Studie von 2013 zufolge 99 Prozent der Frauen schon einmal sexuell belästigt wurden.

Die Flut an Inhalten auf TikTok werden ägyptische Zensoren in Gänze kaum sichten können. «Mit nichts habe ich diese Strafe verdient», sagte Al-Adham der Website «Arab News» zufolge vor Gericht. «Ganz Ägypten veröffentlicht Beiträge auf der App.» (dpa)