Dichtung und Wahrheit

Bei der grenzüberschreitenden Huldigung des verstorbenen israelischen Politikers Schimon Peres fällt Wesentliches unter den Tisch. Zwar soll man bekanntlich nicht schlecht über die Toten reden. Dennoch fordern die übertriebenen Lobreden zu einer Klarstellung heraus. Eine kritische Würdigung von Stefan Buchen

Von Stefan Buchen

"Unermüdlich" habe er für den "Frieden" gekämpft. "Ein Mann des Ausgleichs" sei er gewesen, ein "Ausnahmepolitiker". "Das Liebenswürdige am Zionismus" habe er verkörpert. Bundesregierung und Medien sind sich einig: mit Schimon Peres ist ein "großer Staatsmann" von uns gegangen.

Schon ein kurzer Abgleich mit der Wirklichkeit lässt ahnen: Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Lage des Staates Israel lässt sich weder im Verhältnis zu den Nachbarn noch in seinem Innern mit dem Wort "Frieden" umschreiben. Die meterhohe Betonmauer, die Israelis von Palästinensern trennen soll, die zyklischen Gewaltausbrüche, das nukleare Waffenarsenal, sowie die Aggressivität des öffentlichen und privaten politischen Diskurses der letzten Zeit haben wenig "Liebenswürdiges". An all dem war Schimon Peres beteiligt, an Manchem sogar maßgeblich.

Es gibt grundsätzlich zwei Antworten, um die latente Unstimmigkeit zu erklären, die zwischen dem weihevollen Ton der Nachrufe und der Realität herrscht. Erstens: vielleicht war der Staatsmann Schimon Peres gar nicht so "groß". Jedenfalls muss er viel zu klein und schwach gewesen sein, um seine "Friedensvisionen" zu verwirklichen. Zweitens: Vielleicht ist das Bild vom Friedensfürsten ein luftiges Ideal, das die politische Figur Schimon Peres nur höchst unzulänglich beschreibt. Vielleicht war der "Ausgleich" mit den Nachbarn gar nicht das bestimmende Motiv seines Handelns. Die Wahrheit wird man in einer Mischung aus beiden Antworten suchen müssen.

Im Winter 1995/96 hatte Peres eigentlich leichtes Spiel. Am 4. November 1995 hatte ein nationalreligiöser Fanatiker den amtierenden Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin während einer Friedenskundgebung in Tel Aviv erschossen. Peres, der mit seinem Parteifreund an der denkwürdigen Demonstration für das "Oslo-Abkommen" teilgenommen hatte, rückte vom Posten des Außenministers ins Amt des Regierungschefs auf.

 Peres (l.) und Yitzhak Rabin, kurz vor dem Attentat auf Rabin 1995; Foto: picture-alliance/dpa
Viele Israelis waren erschrocken von dem Hass, der zu der Ermordung Rabins geführt hatte. Peres hätte die gegen das Friedensabkommen mit den Palästinensern hetzenden Fanatiker und ihre politischen Wortführer endgültig in die Schranken weisen schicken können. Aber Peres scheute die harte Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner im Innern.

Alles sprach dafür, dass er die anstehenden Wahlen gewinnen und im Amt bestätigt werden würde. Er wurde getragen von einer Welle der Sympathie zu Hause und in aller Welt. Viele Israelis waren erschrocken von dem Hass, der zu der Ermordung Rabins geführt hatte. Peres hätte die gegen das Friedensabkommen mit den Palästinensern hetzenden Fanatiker und ihre politischen Wortführer Ariel Scharon und Benjamin Netanjahu endgültig in die Schranken weisen und in die politische Bedeutungslosigkeit schicken können.

Eine der schwersten politischen Fehlleistungen

Aber Peres scheute die harte Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner im Innern. Mitten im Wahlkampf startete er stattdessen einen Feldzug im Libanon, der unsäglich war und doch den poetischen Namen "Trauben des Zorns" trug. Die beabsichtigte Schwächung der von Iran unterstützten schiitischen Hisbollah blieb aus. Stattdessen tötete die israelische Artillerie bei einem einzigen Bombardement mehr als 100 Menschen, die sich in ein UNO-Gebäude im südlibanesischen Dorf Qana geflüchtet hatten.

Peres wollte sich mit dem Feldzug als harter Hund zeigen, bei dem die nationale Sicherheit gut aufgehoben ist. Die Quittung: bei der Wahl am 29. Mai 1996 unterlag Peres, und Netanjahu wurde Regierungschef. Diese Wahlniederlage muss als eine der schwersten politischen Fehlleistungen der Zeitgeschichte gelten. Dieses Scheitern ist der Schlüsselmoment in Peres' politischer Biografie.

Der "Friedensprozess" lag in Trümmern. Peres wurde geschlagen von denjenigen, die Hass gepredigt und dem Mörder seines Parteifreundes den Weg geebnet hatten. Scharon und Netanjahu waren vor dem Mord bei nationalistischen Versammlungen aufgetreten, in deren Verlauf ein Abbild Rabins in SS-Uniform gezeigt wurde.

Das tragische halbe Jahr zwischen dem 4. November 1995 und dem 29. Mai 1996 wirkt bis heute nach. Vielleicht wird sich Israel nie mehr von den Folgen erholen. Peres selbst hat ganz gut damit leben können. 2001 zog er als Außenminister und Juniorpartner in die Große Koalition unter dem ultranationalistischen Regierungschef Ariel Scharon.

Kungeln mit dem politischen Gegner

Das Kungeln mit dem politischen Gegner ist eine Konstante in Peres' Laufbahn. Schon in den 1980er Jahren war er eine Koalition mit dem damaligen Likud-Chef Yitzhak Schamir eingegangen und hatte zwei Jahre das Amt des Ministerpräsidenten bekleidet. "Rotation" im Rahmen einer Großen Koalition oder Ermordung des Regierungschefs – so kam Peres für kurze Zeit zweimal an die Spitze der Regierung. Parlamentswahlen hat er stets verloren.

Ein Aktivist des rechten Likud überklebt Wahlplakate des israelischen Ministerpräsidenten Schimon Peres am 26.5.1996 in Jerusalem mit denen des Likud-Führers Benjamin Netanjahu; Foto: picture-alliance/COLORplus/P. Guyot
Politische Fehlleistung und der Anfang vom Ende des Friedensprozesses: Schimon Peres wollte sich mit dem Feldzug gegen die Hisbollah als harter Hund zeigen, bei dem die nationale Sicherheit gut aufgehoben ist. Die Quittung: bei der Wahl am 29. Mai 1996 unterlag Peres, und Netanjahu wurde Regierungschef. Diese Wahlniederlage muss als eine der schwersten politischen Fehlleistungen der Zeitgeschichte gelten.

Auch beim ersten Versuch, sich zum Staatspräsidenten wählen zu lassen, scheiterte er. Erst als Amtsinhaber Moshe Katsav, der sich bei der Wahl gegen Peres durchgesetzt hatte, der Vergewaltigung von Büromitarbeiterinnen überführt wurde und zurücktreten musste, schaffte es Peres im hohen Alter von 84 Jahren 2007 doch noch ins höchste, allerdings rein repräsentative Staatsamt.

Unter seiner Führung erlebte die sozialdemokratische Arbeitspartei einen beispiellosen Niedergang. Von der staatstragenden Regierungspartei fiel sie auf den Status einer Splittergruppe herab. Das Schicksal der israelischen Sozialdemokratie scheint das der europäischen vorwegzunehmen: die Parteiklientel hat sich den Fremdenhassern zugewandt, 15 Jahre bevor in Frankreich die Wähler des "Parti Socialiste" in Scharen zum "Front National" und in Deutschland viele SPD –Wähler zur AfD überliefen. In wirtschaftlichen Fragen dachte Peres neoliberal. Um den sozialen Ausgleich kümmerte er sich nie sonderlich. Der Jerusalemer Geschichtsprofessor Zeev Sternhell warf Peres vor, die einst stolze israelische Arbeitspartei zugrunde gerichtet zu haben.

Der ewige innenpolitische Verlierer

Obwohl Peres in der innenpolitischen Auseinandersetzung der ewige Verlierer war, hielt er sich lange wie kein zweiter, nämlich 70 Jahre, im politischen Establishment Israels. Seinen Aufstieg verdankte er der Tatsache, dass er als junger Mann Vertrauter von Staatsgründer David Ben Gurion wurde. Peres, der selbst nie Soldat war, zeigte früh Talent in der Beschaffung von Waffen, sei es durch Ankauf im Ausland, sei es durch die Gründung eigener Rüstungsbetriebe. Als junger Staatssekretär im Verteidigungsministerium spielte er in den 1950er Jahren eine zentrale Rolle bei der Bewaffnung Israels mit einem nuklearen Arsenal. Peres baute die entscheidenden Kontakte nach Frankreich auf, das die Schlüsselkomponenten der Atomtechnologie lieferte.

Peres legte also, wenige Jahre nach der Shoah, den Grundstein für die dauerhafte militärische Überlegenheit Israels gegenüber den Nachbarn. Unzweifelhaft war dies zunächst eine große Errungenschaft, angesichts der im Unabhängigkeitskrieg 1947/48 deutlich gewordenen Bedrohung durch den arabischen Nationalismus. Ob diese Übermacht, wie Peres später gern behauptete, eine wichtige Voraussetzung für einen Frieden mit den Nachbarn darstellte, muss angesichts des Gangs der Ereignisse bestritten werden.

Nach vier Nahost-Kriegen und dem Ausbruch der palästinensischen Intifada Ende der 1980er Jahre wollte Peres eine Friedensregelung mit den unmittelbaren arabischen Nachbarn. Daran besteht kein Zweifel. Der Vertrag mit Jordanien und das Abkommen mit den Palästinensern, das diesen zunächst eine gewisse Autonomie in Teilen der besetzten Gebiete Westjordanland und Gazastreifen zubilligte, sind Ausfluss dieses Willens.

Der "Neue Mittlere Osten"

Aber hinter seinem Schlagwort vom "Neuen Mittleren Osten" (ha-mizrakh ha-tikhon he-khadash) verbarg sich eine ganz bestimmte Vorstellung von diesem Frieden. Palästina, Jordanien, auch Syrien und zumindest der überwiegende Teil des Libanon sollten sich mit Israel vertragen. Wirtschaftlich sollte Israel von dieser Friedensgemeinschaft in ähnlicher Weise profitieren wie Deutschland von der EU.

Wichtiger waren jedoch die strategischen Überlegungen. Die "gemäßigte sunnitische Bevölkerungsmehrheit" der direkten Nachbarstaaten sollte einen Sicherheitspuffer bilden. Das politische Establishment in Israel hatte nämlich einen neuen Hauptfeind ausgemacht: die (schiitische) Islamische Republik Iran. Peres' "Vision" vom Neuen Mittleren Osten war ganz darauf angelegt, Iran von jeglicher regionalen Friedensordnung auszuschließen. Diese Linie war eng mit den USA abgestimmt.

US-Präsident Barack Obama und US-Außenminister John Kerry im März 2013 zu Besuch bei  Schimon Peres in Jerusalem; Foto: Reuters
Schreckgespenst Islamische Republik: Peres' "Vision" vom Neuen Mittleren Osten war ganz darauf angelegt, Iran von jeglicher regionalen Friedensordnung auszuschließen. Diese Linie war eng mit den USA abgestimmt.

Immer wieder verkauften Peres und andere israelische Führungskräfte die Notwendigkeit, "Arafat die Hand zur Versöhnung auszustrecken", mit der "Bedrohung durch die schiitischen Ajatollahs". Auf die müsse man sich konzentrieren. Dass Iran "nur wenige Monate vor der Fertigstellung der Atombombe" stehe (und damit die militärische Übermacht Israels egalisieren würde), ist seit den 1990er Jahren ein von Schimon Peres gern gepflegtes Mantra gewesen. Unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, dass der Iran und die palästinensischen Islamisten der Hamas zusammenfanden und dabei sogar konfessionelle Barrieren überwanden.

Gefahr der politischen Isolation

Diesen Zusammenhang hat der israelische Zeithistoriker Khagai Ram eindrucksvoll offen gelegt. US-Präsident Obama, die übrigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und Deutschland haben sich mit dem Nuklearabkommen vom Juli 2015 eindeutig gegen die Logik von Schimon Peres gestellt, wonach der Iran von einer nahöstlichen Friedensordnung ausgeschlossen werden müsse. Daraus ergibt sich für Israel unzweifelhaft die Gefahr der politischen Isolation.

In ihren Nachrufen stellen die Eulogen bewundernd die "Größe" des "Letzten aus der Gründergeneration des Staates Israel" der Mediokrität der jüngeren Politikerklasse gegenüber. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass westliche Politiker und Medieneliten sich gern selbst in dem so europäischen Nobelpreisträger aus Tel Aviv spiegeln. Welchen Anteil Peres selbst am Niedergang der politischen Kultur Israels während der vergangenen zwei Jahrzehnte hatte, wird dabei gnädig übersehen.

Zum Glück ist Schimon Peres 1934 als kleiner Junge mit seiner Familie aus dem ostpolnischen Wishneva nach Eretz Israel ausgewandert. So entging er der Ermordung durch die Deutschen. Möge er nach einem ereignisreichen 93-jährigen Leben in Frieden ruhen. Die Welt muss hoffen, dass dies auch für sein politisches Frühwerk gilt: die unter der Wüste Negev gelagerten Atomwaffen. Die Welt muss hoffen, sich nicht eines Tages jäh an Schimon Peres erinnern zu müssen wegen einer nuklearen Zündung irgendwo im Nahen oder Mittleren Osten.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2016

Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama. Von 1993 bis 1996 studierte er Arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv. Von 1996 bis 1999 war er als Journalist in Israel tätig. Er spricht fließend Arabisch, Hebräisch und Persisch.