Tiefe Gräben

Wie erklärt sich das Phänomen des Salafismus? Und was veranlasst junge Islamisten weltweit, in den Dschihad zu ziehen? Antworten gibt Wolf Schmidt in seinem kenntnisreichen Buch "Jung, deutsch, Taliban". Albrecht Metzger hat es gelesen.

Die gegenwärtigen Ausschreitungen in der islamischen Welt, ausgelöst wegen eines plumpen Films über den Propheten Mohammed, zeigen erneut, wie tief die kulturellen Gräben zwischen der islamischen Welt und dem Westen in den vergangenen Jahrzehnten geworden sind.

Für die meisten Muslime ist es ein Tabu, über Religionen zu spotten, die Menschen in den USA und in Europa finden es hingegen normal, auch über Propheten herzuziehen, seien es nun christliche oder muslimische. Diese Gräben werden so schnell nicht zugeschüttet werden können.

Allerdings sollten Nicht-Muslime zumindest versuchen zu verstehen, woher die Sensibilitäten in der islamischen Welt kommen und was sie auslösen können. Die Ehre der Religion zu verteidigen, scheint für viele Muslime auch ein Weg zu sein, sich gegen die politische, kulturelle und wirtschaftliche Dominanz des Westens zur Wehr zu setzen – zur Not auch mit Gewalt.

​​Diese Gewaltbereitschaft verstört, besonders in einer Wohlstandsgesellschaft wie der Bundesrepublik, wo es den Menschen im Vergleich zu anderen Ländern doch scheinbar gut geht. Das Unbehagen steigt, wenn religiöse Motive involviert sind, der Gedanke, für das Kreuz in den Krieg zu ziehen, ist uns längst abhanden gekommen.

Der Gipfel des Unverständnisses ist jedoch erreicht, wenn jemand sein Leben für eine Religion opfern will, die vielen Menschen in Deutschland als Relikt aus dem Mittelalter erscheint.

Im Dienste des Dschihad

Doch das ist die Realität in diesem Land: Immer mehr junge Menschen nehmen den Islam an oder entdecken ihn neu, geraten in die Fänge religiöser Eiferer und enden in den Bergen Waziristans, um sich für den Dschihad ausbilden zu lassen. Als Nährboden des Extremismus gilt der Salafismus, eine besonders strenge Auslegung des Islams, die bis vor kurzem hierzulande niemand kannte. Zu Beginn des Jahrhunderts gab es ein paar Hundert Salafisten in Deutschland, mittlerweile sind es einige Tausend. Längst nicht alle sind gewaltbereit, aber manche eben doch. Sie werden Dschihadisten genannt.

Wolf Schmidt, Redakteur für Innere Sicherheit bei der taz, hat ein Buch über diese Menschen geschrieben. Sein Ausgangspunkt ist die Frage, die auch deutschen Sicherheitsbehörden unter den Nägeln brennt: Was hat sie radikalisiert? Warum wollen sie in den Heiligen Krieg gegen den Westen ziehen?

Buchcover Jung, deutsch, Taliban im CH. Links Verlag
Was motiviert junge Menschen, in den Dschihad zu ziehen? Wolf Schmidt versucht in seinem Buch, eine Antwort hierauf zu geben, indem er diverse Einzelschicksale untersucht.

​​Schmidt versucht, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, indem er sich diverse Einzelschicksale vornimmt. Er beschreibt den Werdegang junger Dschihadisten, spricht mit ihren Verwandten und Freunden, zitiert aus Ermittlungsakten und geht zu den Gerichtsverfahren. Das ist unterhaltsam geschrieben, der Stil ist unaufgeregt, was angesichts der Dramatik des Themas nicht selbstverständlich ist.

Es ist ein gutes Buch, das einen umfassenden Überblick über die Entwicklungen in den vergangenen Jahren liefert. Eine wirklich befriedigende Antwort auf die gestellten Fragen hat aber auch Schmidt nicht. Dafür sind die Biographien der Personen zu unterschiedlich: Manche waren in ihrer Jugend Außenseiter und wurden gehänselt, andere waren angepasst und liebten amerikanischen Sport, mache lebten von Hartz IV, als sie sich radikalisierten, anderen standen in Lohn und Brot.

Spricht Schmidt mit Freunden und Verwandten der Dschihadisten, so ist der Tenor ähnlich: Keiner hätte gedacht, dass der einmal so endet, niemand habe die Anzeichen für eine Radikalisierung bemerkt.

Das gilt zum Beispiel für Arid Uka, einem im Kosovo geborenen Muslim, der im März 2011 den ersten islamistisch motivierten Anschlag in Deutschland verübte. Er erschoss auf dem Frankfurter Flughafen zwei amerikanischen Soldaten, als Rache für die vermeintlichen Gräueltaten der US-Armee in Afghanistan. Radikalisiert hatte er sich durch das Internet. Frühere Freunde konnten es nicht fassen, als sie davon hörten.

Drei Phasen der Radikalisierung

Trotz der unterschiedlichen Biographien europäischer Dschihadisten haben Extremismusforscher drei Phasen ausgemacht, die kennzeichnend für Radikalisierungsprozesse sein sollen: Am Anfang steht ein tiefer Unmut über wirkliche oder vermeintliche Ungerechtigkeiten, seien sie persönlicher (Diskriminierung, Ausgrenzung) oder politischer Art (Palästina, Afghanistan).

Als zweiter Schritt folgt der Kontakt mit einer Ideologie, die einem Halt gibt und einfache Antworten auf schwierige Fragen gibt. In diesem Fall ist es der Salafismus, der klar zwischen gut und böse unterscheidet und seinen Anhängern das Gefühl gibt, auf der Seite der Wahrheit zu stehen.

Ausschnitt aus einem Propagandavideo der extremistischen Jundallah zeigt den aus Deutschland stammenden Dschihadisten Abu Askar als Kämpfer der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU), Foto: AP
Im Fahrwasser des religiösen Fanatismus: Ausschnitt aus einem Propagandavideo der "Jundallah" zeigt den aus Deutschland stammenden Dschihadisten Abu Askar als Kämpfer der "Islamischen Bewegung Usbekistans" (IBU).

​​Ist die betroffene Person erst einmal in derartige Zirkel eingetaucht, kann drittens die Gruppendynamik eine weitere Radikalisierung bewirken: Die Gesinnungsbrüder oder –schwestern schauen sich gemeinsam Videos von wirklichen oder vermeintlichen Gräueltaten der "Ungläubigen" an und lauschen den Predigten von Dschihad-Ideologen. Beides bestärkt sie in ihrem dualistischen Weltbild und fördert den Hass auf die "Feinde" des Islams.

Ein "Risiko unter vielen"

Ob sie dann tatsächlich zur Tat schreiten, also in den Dschihad ziehen, hängt dann von biographischen Zufällen ab. "Es gibt so viele Wege in den Terrorismus wie es Terroristen gibt", zitiert Schmidt einen hochrangigen Sicherheitsbeamten. Gewalt, so Schmidt, habe immer viele Gründe "Möglicherweise kann man das auch gar nicht erklären", schreibt er.

Keine befriedigende, aber wenigstens eine ehrliche Antwort. Fazit: Wahrscheinlich muss jede Gesellschaft mit einem gewissen Gewaltpotenzial leben. Sollten auch in Deutschland Salafisten auf die Straße gehen, um gegen die Schmähungen des Propheten Mohammed zu demonstrieren, muss das kein schlechtes Zeichen sein – selbst wenn es zu Konfrontationen mit der Polizei käme.

Es ist vermutlich besser, wenn sich die aufgestaute Wut in dieser mehr oder weniger kontrollierten Form entlädt, als wenn deutsche Salafisten nach Pakistan oder Ägypten auswandern, sich dort weiter radikalisieren und dann als gewaltbereite, potentielle Attentäter nach Deutschland zurückkehren.

Letztlich, so schreibt Schmidt, sei der islamistische Terrorismus ein "Risiko unter vielen", statistisch betrachtet noch nicht einmal das größte: Seit 1990 sind in Deutschland 150 Menschen durch rechtsextremistisch motivierte Gewalt gestorben, islamistische Attentäter hingegen haben bislang zwei Tote auf dem Gewissen.

Albrecht Metzger

© Qantara.de 2012

Wolf Schmidt: "Jung, deutsch, Taliban", Ch. Links Verlag, Berlin 2012, 208 Seiten

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de