Wie junge Mädchen zu Islamistinnen werden: Kinofilm "Der Himmel wird warten"

Eben hat Melanie in der großen Pause noch Bleistifte verkauft, um den Erlös für Hilfsprojekte in Burkina Faso zu spenden. Nun ist sie auf dem Weg nach Syrien, zu einem jungen Mann, der als Profilfoto das Bild eines Löwen verwendet und sie heiraten möchte, wenn sie nur die Regeln des Islam befolgt. Ihre Freundinnen und sogar ihre eigene Mutter empfindet Melanie als dumm und oberflächlich; ihr geliebtes Cello hat sie in den Keller gestellt.

Dass das Schicksal von Melanie einer Radikalisierung aus dem sprichwörtlichen Bilderbuch gleicht, ist kein Zufall. Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar hat für ihren Spielfilm "Der Himmel wird warten" vorab mit vielen jungen Mädchen gesprochen, aus denen ihre fiktionalen Figuren entstanden sind. Neben Melanie ist da noch Sonia, die wegen der Verwicklung in Attentatspläne verhaftet wurde. Das französische Drama, das Ende März in die Kinos kommt, erzählt ihre beiden Geschichten.

Schon lange machen Forscher Beobachtungen wie diese: Wenn ein junger Mensch sich zum Beispiel plötzlich von der Musik abwendet, könne das ein Alarmzeichen für ein Abgleiten in die radikal-islamische Szene sein, sagt etwa Dominic Musa Schmitz. Er hatte sich 2005 dem Salafismus angeschlossen, ist inzwischen jedoch ausgestiegen und hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben. Auch Verschwörungstheorien, über die Melanies Freunde im Film schmunzeln, sind nach seiner Einschätzung typisch. "Es geht um eklatante Änderungen bei Sinnfragen", sagt Schmitz, der heute in der Präventionsarbeit tätig ist.

Und noch etwas an Teenager Melanie passt zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen über Radikalisierung: Nicht selten fühlen sich junge Frauen in Europa zunächst aus humanitärem Interesse von der terroristischen Propaganda angesprochen, hat die kanadische Forscherin Marie Lamensch beobachtet. "Viele von ihnen möchten eigentlich Ärztinnen, Krankenschwestern oder Sozialarbeiterinnen werden." Laut der Bundeszentrale für politische Bildung erzielen jene Propaganda-Bilder besonders viele Reaktionen, die verwundete oder tote Kinder aus Syrien zeigen.

Eine weitere zentrale Rolle spielt im und für den Film Dounia Bouzar. Die Anthropologin, die vor drei Jahren das französische Zentrum zur Prävention, Entradikalisierung und der individuellen Betreuung (CPDSI) mitbegründete, spielt sich in dem Film selbst. Sie ist es, die Sonia klar macht: Ja, sie sei skrupellosen Terror-Anwerbern zum Opfer gefallen. Indem sie sich ihnen angeschlossen habe, habe sie aber auch ihrerseits Schuld auf sich geladen.

Die meisten jungen Menschen, die in den Irak oder nach Syrien ausreisen, sind eben keine naiven "Dschihad-Bräute", wie die Forschung bestätigt. Es gebe zwar junge Mädchen, die allein aus romantischen Gründen ausreisten. Sie seien jedoch die Minderheit, so der Londoner Terrorforscher Peter Neumann.

Auch sind nicht nur junge Menschen aus schwierigen Lebensverhältnissen eine leichte Beute für Extremisten, betont der Geschäftsführer des deutschen "Violence Prevention Network", Thomas Mücke. Genauso könne "die Tochter eines Polizeibeamten oder der Sohn einer Lehrerin" von der Gesellschaft, dem Elternhaus und dem Freundeskreis entfremdet werden, sagte der Pädagoge Anfang des Jahres bei SWRinfo.

Eines der Mädchen, mit dem Filmemacherin Mention-Schaar bei ihren Recherchen gesprochen hat, beschrieb das Gefühl, sich dem IS angeschlossen zu haben, als wohligen Kokon. "Ein Gefühl wie in Zuckerwatte zu stecken", zitiert die Regisseurin in einem Interview. Wie der Weg zurück ins Leben gelingen kann, wenn sich dieses Wohlgefühl als Täuschung entpuppt - das habe sie besonders interessiert, ergänzt Mention-Schaar.

So gibt es im Film eine Szene, in der Sonia einen rotierenden Holzstab beobachtet, der sich an einem Kirmesstand von der klebrigsüßen Masse einwickeln lässt. Kurz darauf weint sie bitterlich: "Wie ein Insekt im Spinnennetz" sei sie in der IS-Ideologie gefangen gewesen - nicht mehr sie selbst. Das Leid der jungen Menschen, die Vorbilder für Sonia und Melanie waren, und ihrer Familien: Das ist, so die schmerzliche Erkenntnis dieses Spielfilms, genau das Gegenteil von Zuckerwatte. (KNA)

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