Wachsende Instabilität in der Türkei setzt Erdogan unter Druck

Die Stimmung zum neuen Jahr in der Türkei ist düster. Das Jahr war gerade erst 75 Minuten alt, als ein Dschihadist den schicken Nachtclub "Reina" am Bosporus stürmte und 39 Menschen erschoss. Bereits in den Wochen zuvor war das Land von schweren Anschlägen erschüttert worden, darunter ein doppeltes Selbstmordattentat auf die Polizei in Istanbul mit 46 Toten. Erstmals seit Jahren brach zudem das Wachstum ein, die Währung stürzte ab und kurz vor Silvester mehrten sich in Istanbul auch noch die Stromausfälle.

Angesichts der um sich greifenden Instabilität in der Türkei gibt es inzwischen auch unter den Anhängern von Präsident Recep Tayyip Erdogan Unmut über seinen Kurs, doch erwarten Experten nicht, dass ihm dies wirklich gefährlich wird. Weder erscheine die Opposition als glaubwürdige Alternative, noch sei ein Regierungswechsel in der derzeitigen Situation für die meisten Türken erstrebenswert.

"Wenn die Leute Einschnitte in ihrem täglichen Leben durch die Inflation, den Verfall der Währung oder zuletzt die Stromausfälle spüren, kann das die AKP in Bedrängnis bringen", sagt Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. "Das Narrativ, dass ein starker Staat gegen die Bedrohung des Terrors notwendig ist, verfängt aber bei vielen Leuten, zumal dieses Narrativ in der Türkei eine lange Tradition hat."

Auch Galip Dalay vom Politikinstitut Sharq-Forum in Istanbul erwartet nicht, dass sich die Wähler in der jetzigen Situation von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) abwenden. "Auch wenn viele ihrer Wähler unzufrieden sind mit der Politik der AKP, werden sie trotzdem bleiben, weil sie keine Alternative sehen. Ich erwarte daher keine bedeutenden Veränderungen bei den nächsten Wahlen."

Hätten die Leute früher Reformen gefordert, um denselben Lebensstandard wie in Europa zu erreichen, seien sie heute schon froh, "wenn die Türkei kein neues Syrien oder Ägypten wird", sagt Dalay. Viele Wähler würden die Darstellung Erdogans akzeptieren, dass es in Zeiten der Unsicherheit und Instabilität eine starke Führung braucht, und daher der Wechsel zum Präsidialsystem notwendig sei.

Der Entwurf für das Präsidialsystem, mit dem die Stellung Erdogans deutlich gestärkt werden soll, wird nächste Woche ins Plenum kommen. Die Verfassungsreform, die von der AKP und der ultrarechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ausgearbeitet wurde, von den anderen Oppositionsparteien aber abgelehnt wird, soll im Frühjahr dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.

Die Pläne tragen weiter zur Polarisierung des ohnehin gespaltenen Landes bei. Für die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) ist dies ein guter Nährboden. "Es gibt zweifellos den Willen, sich festzusetzen und die gesellschaftliche  Spaltung auszunutzen", sagt Sinan Ülgen, Präsident des Forschungsinstituts Edam. Einer der größten Gegensätze in der Türkei sei zweifellos jener zwischen "Säkularen und Islamisten".

Zum Jahresende hatte es in der Türkei eine scharfe Debatte über das Feiern von Silvester gegeben, das von säkularen Türken gerne als eine Art Ersatzweihnachten mit Tannenbaum und Geschenken begangen wird. Konservative Muslime lehnen dies vehement ab, und in der Freitagspredigt vor Silvester, die von der Religionsbehörde Diyanet verfasst wurde, war das Feiern als unislamisch verdammt worden.

Präsident Erdogan scheint inzwischen die Gefahr einer weiteren Polarisierung erkannt zu haben. Der Anschlag auf das "Reina" habe "einen Bruch in der Gesellschaft schaffen" sollen, doch werde er dies nicht zulassen, sagte er am Mittwoch. "Niemandes Lebensstil in der Türkei ist grundlegend bedroht. Wir werden niemals zulassen, dass dies passiert", sagte der Politiker, dem die Säkularen seit Jahren vorwerfen, ihnen seine Wertvorstellungen aufdrängen zu wollen. (AFP)