Vom Traum zum Frust: Iraks Kurden nach Peschmerga-Rückzug ernüchtert

Seit Jahrzehnten träumen Iraks Kurden von einem eigenen Staat. Mit dem Unabhängigkeitsreferendum sahen sie sich diesem Ziel näher. Doch Kurden-Präsident Barsani hat sich in dem Konflikt verpokert. Von Jan Kuhlmann

Drei Wochen erst ist es her, da feierten die Kurden im Nordirak ausgelassen auf den Straßen. Autos fuhren mit Hupkonzerten durch die kurdische Regionalhauptstadt Erbil und legten den Verkehr lahm. Menschen tanzten auf den Bürgersteigen. Feuerwerksraketen stiegen in den Himmel auf. Die Kurden bejubelten die überwältigende Mehrheit, mit der sie in einem Referendum für die Abspaltung vom Irak gestimmt hatten. Ihre Unabhängigkeit schien nah. Endlich.

Mittlerweile aber ist die unbändige Freude Ernüchterung und Frust gewichen. Anstatt einem eigenen Staat näher zu kommen, mussten sich die Kurden am Montag und Dienstag aus zahlreichen Regionen zurückziehen, die sie im Kampf gegen die IS-Terrormiliz eingenommen hatten. Mehr oder weniger kampflos überließen sie die Gebiete heranrückenden Einheiten, die die irakische Zentralregierung in Bewegung gesetzt hatte. Bagdad will die Abspaltung der Kurden unter allen Umständen verhindern - und setzte dabei auf eine Eskalation.

«Wir sind um 100 Jahre zurückgeworfen», schimpft ein Kurde aus Erbil, der bei der Volksabstimmung Ende September für die Unabhängigkeit gestimmt hatte. «Wir sind vollständig geschlagen, alles ist vorbei.» Viele Kurden dürften sich angesichts des Vormarsches bestätigt sehen in ihrer Abneigungen gegen die Zentralregierung. Die Kurden und die Mächtigen in Bagdad, das ist eines der schwierigsten Kapitel der irakischen Geschichte. Langzeitherrscher Saddam Hussein unterdrückte die kurdische Minderheit im Land mit brutalen Mitteln.

Eingebrannt ins kollektive Gedächtnis der Kurden etwa haben sich Saddams Anfal-Kampagne, der in den 1980ern Jahren Zehntausende zum Opfer fielen, und der Giftgasangriff auf die Stadt Halabdscha. Nicht zuletzt aus solchen traumatischen Kapiteln speist sich die Sehnsucht der Kurden nach einem eigenen Staat. Kurden-Präsident Massud Barsani warf der von Schiiten dominierten Regierung in Bagdad zudem vor, sie diskriminiere in autokratischem Stil die Minderheiten im Land. Einige Mächtigen in Bagdad hätten dieselbe Mentalität wie zu Zeiten Saddams.

Mit dem umstrittenen Unabhängigkeitsreferendum wollte sich Barsani ein Vermächtnis schaffen. Jetzt aber sieht es so aus, als hätte sich der 71-Jährige verpokert. Schließlich mussten sich die Kurden aus Gebieten zurückziehen, die sie niemals mehr aufgeben wollten.

Insbesondere der Verlust der Provinz Kirkuk schmerzt sie. Die Kurden zählen sie zu ihrem Stammgebiet und erheben auf das umstrittene Gebiet ebenso Anspruch wie die Zentralregierung. Als im Sommer 2014 die irakische Armee vor dem IS-Ansturm zusammenbrach, nutzten die Peschmerga die Gunst der Stunde und rückten in Kirkuk ein.

Denn vor allem ist Kirkuk reich an Öl, das ein kurdischer Staat bräuchte, um lebensfähig zu sein. Hier liegen die zweitgrößten Reserven des Landes. Von Kirkuk aus pumpten die Kurden Öl über eine Pipeline in die Türkei, eine wichtige Einnahmequelle für die wirtschaftlich ohnehin geschwächten kurdischen Autonomiegebiete.

Enttäuscht sind die Kurden jetzt, weil sie sich von der Welt im Stich gelassen fühlen. Die großen Nachbarn Türkei und Iran wollen einen unabhängigen Kurden-Staat ohnehin verhindern, weil ihre eigenen kurdischen Minderheiten kein Vorbild bekommen sollen. Aber auch die USA, eigentlich ein Verbündeter Barsanis, hatten den Präsidenten vor dem Referendum gewarnt. Jetzt werfen die Kurden den Amerikanern vor, sie hätten sie fallengelassen, weil sie Iraks Armee nicht vom Vormarsch auf kurdisch kontrollierte Gebiete abgehalten hätten.

US-Präsident Donald Trump erklärte, er wolle in dem Konflikt keine Partei ergreifen. Für Washington hat der Kampf gegen den IS absoluten Vorrang. Die USA unterstützten dabei sowohl Iraks Armee als auch die Peschmerga. Militärisch besiegt sind die Extremisten trotz großer Verluste bisher nicht, auch wenn sie am Dienstag mit der syrischen Stadt Al-Rakka eine ihrer allerletzten Hochburgen verloren haben.

Noch immer kontrollieren die Dschihadisten im Westen des Iraks Gebiete. Sollte der Streit zwischen Kurden und Zentralregierung weiter eskalieren, könnte das auch den Kampf gegen den IS negativ beeinflussen. Vor allem aber könnte der Konflikt den ohnehin schon schwachen irakischen Staat weiter auseinanderfallen lassen - und so den Boden für eine Rückkehr der IS-Terrormiliz bereiten.

Noch aus einem anderen Grund beobachten die USA die Eskalation im Irak mit großer Sorge: Zu den treibenden Kräften in dem Konflikt gehören die schiitischen Milizen, die vom Iran finanziert werden. Sie gelten als verlängerter Arm ausgerechnet des Staates, den Trump zu seinen Erzfeinden zählt. Doch mit dem Vormarsch der regierungstreuen Kräfte haben die Milizen ihren Einfluss im Irak weiter ausdehnt. (dpa)