Vollstreckung der Todesstrafe in Ägypten von heute auf morgen

Leila stand unter Schock. Nachts hatte sie erfahren, dass ihr Bruder Amr nach drei Jahren in einer ägyptischen Todeszelle gehängt werden sollte - und zwar am nächsten Tag. "Es war eine sehr harte Nacht. Das wünsche ich keinem", sagte Leila der Nachrichtenagentur AFP, die zum Schutz der Familie die Namen geändert hat. Amrs Schicksal ist mitnichten ein Einzelfall. Für viele Verurteilte in Ägypten, die seit Jahren in überfüllten Gefängnissen waren, kann die Vollstreckung ihrer Strafe derzeit sehr plötzlich kommen.

Hinrichtungen, immer durch den Strang, sind unter der Herrschaft von Präsident Abdel Fattah al-Sisi drastisch angestiegen. In diesem Jahr sind bisher 15 Menschen gehängt worden. Von Anfang 2017 bis Ende 2018 hat Ägypten einem aktuellen Bericht der Menschenrechtsgruppen Egyptian Initiative for Personal Rights und Adalah for Rights and Freedoms zufolge 92 Menschen hingerichtet.

Diese Zahlen sind sehr viel höher als die vorheriger Regierungen, auch der vom ehemaligen autoritären Machthaber Husni Mubarak, der nach Protesten im Jahr 2011 abgesetzt wurde. In Mubaraks letzten drei Jahren an der Macht wurden Amnesty International zufolge insgesamt elf Menschen hingerichtet.

Während eines Gipfels von EU und Arabischer Liga im Februar im ägyptischen Scharm el-Scheich verteidigte Al-Sisi die Anwendung der Todesstrafe. "Sie werden uns nicht über unsere Menschlichkeit belehren", sagte der Ex-General, der sich 2013 an die Macht geputscht hatte.

Die UN-Sonderberichterstatterin für Hinrichtungen, Agnès Callamard, sagte, die zunehmende Anwendung der Todesstrafe entspräche "willkürlichen Tötungen", die möglichen Widerstand in der Bevölkerung brechen sollen.

Seit der Absetzung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi im Juli 2013 registrieren Experten ein zunehmend autoritäres Verhalten ägyptischer Richter. Dies geht mit einem anhaltend harten Vorgehen der Regierung einher, in dessen Zuge tausende Menschen inhaftiert wurden.

Sahar Aziz, Juraprofessorin an der Rutgers Universität im US-Bundesstaat New Jersey, sagte: "Wir erleben einen Anstieg bei den Todesstrafen von rund zehn pro Jahr vor 2011 auf hunderte pro Jahr nach 2013." Die in London ansässige Menschenrechtsgruppe Reprieve geht davon aus, dass zwischen 2014 und 2018 mindestens 2159 Menschen zum Tode verurteilt wurden.

Die "besorgniserregende Geschwindigkeit", mit welcher die Todesstrafe angewandt werde, lege nahe, dass Ägyptens Rechtsweg im Zuge der restriktiven Regierungspolitik politisiert worden sei, argumentierte Aziz.

Das ägyptische Rechtssystem basiert auf dem islamischen Recht der Scharia, das die Todesstrafe vorsieht. Eine hochrangige Quelle aus dem Justizapparat versicherte, es gebe "keinerlei Politisierung" bei den Todesurteilen. "Wir wenden den Islam entsprechend seiner Gesetze an, warum regen Sie sich auf?", sagte er.

Ein Bericht von Amnesty International aus dem April ordnet Ägypten an sechster Stelle der Länder mit den meisten Hinrichtungen im Jahr 2018 ein; hinter China, dem Iran, Saudi-Arabien, Vietnam und dem Irak. Viele der Urteile wurden in Massenprozessen mit hunderten Angeklagten binnen weniger Tage gefällt.

UN-Sonderberichterstatterin Callamard nannte die Umstände, die zur "Auferlegung dieser Urteile und ihrer Vollstreckung" führten, "äußerst bedenklich". Sie warf der internationalen Gemeinschaft vor, Ägypten wegen der skandalösen Anwendung der Todesstrafe nicht zur Verantwortung zu ziehen. "Diese ohrenbetäubende Stille ist zu einem wichtigen Teil der schnell ansteigenden Menschenrechtsverstöße in Ägypten geworden", sagte sie.

Für die Angehörigen der Hingerichteten bleiben nur schmerzvolle Erinnerungen. Leilas Bruder Amr bereitete sich auf seine Hochzeit vor, als er im Februar 2016 festgenommen wurde. Ihm wurde vorgeworfen, zusammen mit acht anderen im Juni 2015 den damaligen Generalstaatsanwalt Ägyptens bei einem Autobombenanschlag getötet zu haben. Leila erzählt von Folterspuren am Körper ihres Bruders, die sie bei Besuchen im Gefängnis gesehen hätte.

Als sie ihn später in der Leichenhalle gesehen habe, sei Amr "nicht dieselbe Person" gewesen, die sie kannte. "Er schlief so friedlich." (AFP)