Volksparteien unter Druck - Europaparlament wird bunter

Bislang geben Christ- und Sozialdemokraten im Europaparlament den Ton an. Damit ist jetzt Schluss. Aber wie werden Mehrheiten künftig zustande kommen? Von Alkimos Sartoros und Michel Winde

Die von vielen Rechten erhoffte «Zeitenwende» in Europa bleibt wohl aus. Rechte und rechtsradikale Parteien legten bei der Europawahl am Sonntag zwar zu. Doch gleichzeitig zeichnete sich so etwas wie ein gegenläufiger Trend ab: Grüne und Liberale gewannen ebenfalls kräftig. Nur für die Volksparteien sieht es düster aus: Christdemokraten und Sozialdemokraten erreichten ein historisches Tief. «Die Volksparteien sind unter Druck», sagte CSU/CDU-Spitzenkandidat Manfred Weber am späten Abend.

Im neuen Parlament spiegelt sich eine gesellschaftliche Tendenz wider: Es wird fragmentierter. Zugleich mobilisiert Europa die Menschen und treibt sie an die Wahlurnen. Ersten Hochrechnungen zufolge machte rund jeder zweite Wahlberechtigte sein Kreuz – mehr als in den vergangenen 20 Jahren. Ein Grund zum Feiern, das betonte an diesem Abend fast jeder Europapolitiker.

Die Entscheidungsfindungen und die Bildung von Koalitionen dürften im neuen Europaparlament schwieriger werden. Plötzlich sind es die vermeintlich Kleinen - vor allem Grüne und Liberale -, auf die es ankommt. Das ist ein Novum, seitdem die Bürger 1979 erstmals direkt das Parlament gewählt haben. Weber gab sich optimistisch: Bei diesen Parteien sei der Wille zum Konsens da. Der Fraktionschef der Liberalen, Guy Verhofstadt, sagte selbstbewusst: Eine solide Mehrheit der Pro-Europäer sei ohne seine Gruppe nicht mehr möglich.

Die Erwartungen von Italiens Vizepremier Matteo Salvini von der rechten Lega dürften sich hingegen nicht vollends erfüllen. Seine eigene Partei erzielte in Italien laut Nachwahlbefragungen zwar ein Rekordergebnis um die 30 Prozent. Mit seinen Riesenambitionen dürfte Salvini, der zu jeder Gelegenheit gegen Migranten hetzt, allerdings baden gehen. Zur größten Parteienfamilie im Parlament wollte er seine neue «Europäische Allianz der Völker und Nationen» machen. Daraus wird absehbar nichts werden.

Daran ändert auch die Unterstützung der AfD nichts. Die deutschen Rechtspopulisten kamen nun zwar auf knapp 11 Prozent. Auch Marine Le Pens Rassemblement National aus Frankreich bestätigte ihr starkes Ergebnis von 2014. Von einer Mehrheit der 751 Sitze ist das Salvini-Bündnis allerdings meilenweit entfernt. Selbst dann, wenn sich alle rechtsgerichteten Kräfte im Parlament zusammenschließen sollten, klappt es damit nicht.

Hochrechnungen zufolge könnten am Ende knapp 180 Sitze herauskommen - rund 20 mehr als bislang. Doch die Einheit von Rechtsextremen, Rechtsnationalen, Rechtspopulisten und anderen Rechten im Parlament ist äußerst unwahrscheinlich. Es wird wohl mindestens zwei rechte Parteienfamilien im neuen Europaparlament geben.

Deutlich größer ist der Zugewinn von Grünen und Liberalen im Vergleich zur Europawahl 2014. Die Grünen könnten - beflügelt vor allem von ihrem Rekordergebnis im größten EU-Staat Deutschland – rund 15 Sitze hinzugewinnen und auf etwa 70 Parlamentarier kommen. Die Liberalen - mit der erwarteten Unterstützung der Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron - könnten etwa 35 Sitze dazubekommen und bei rund 100 landen.

Deshalb steht fest: Die bisherige informelle große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten ist am Ende. Die Volksparteien sind längste Zeit Volksparteien gewesen. Um sich gegen die EU-Skeptiker und -Gegner sowohl rechts als auch links zu behaupten, werden Christdemokraten, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale künftig noch häufiger zusammenarbeiten müssen.

Anders wird es dem Parlament auch nicht gelingen, sich bei der Wahl des Kommissionspräsidenten gegen die Staats- und Regierungschefs zu behaupten. Die Chancen für den CSU-Politiker und Spitzenkandidaten der europäischen Christdemokraten, Manfred Weber, auf den EU-Kommissionschefsessel stehen eher schlecht. Dennoch betonte er am späten Abend noch seinen Führungsanspruch. Die Führungsfrage sei klar, die EVP habe als stärkste Fraktion das Mandat der Wähler. Die nächsten Tage und Stunden könnten über sein politisches Schicksal entscheiden. Zumal ihm schon am Abend Gegenwind von Liberalen und Sozialdemokraten entgegenschlug - etwa von EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Das Rennen ist eröffnet. (dpa)