Unscheinbarer Kommunalpolitiker als neuer Star der türkischen Opposition

Am Morgen nach der Wahl hingen an den Straßen in Istanbul große Plakate, auf denen der Kandidat der Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan den Einwohnern für seinen Wahlsieg dankt. Doch der Dank war verfrüht. Denn nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen in der Nacht, zu dessen Höhepunkt sich der AKP-Kandidat Binali Yildirim bereits zum Sieger ausgerufen hatte, trat am Vormittag der Leiter der Wahlkommission vor die Presse und verkündete, dass der Kandidat der Opposition in Führung liege.

Zwar ist der Vorsprung des CHP-Kandidaten Ekrem Imamoglu mit 28.000 Stimmen knapp. Doch alles deutet darauf hin, dass der unscheinbare Kommunalpolitiker neuer Oberbürgermeister der 15-Millionen-Metropole wird. Der AKP hat er damit eine der schwersten Niederlagen ihrer Geschichte zugefügt und seiner Partei neuen Auftrieb gegeben. Über Nacht ist der 49-Jährige zum neuen Star der Opposition geworden.

Der Politiker der linksnationalistischen CHP wurde 1970 in der Schwarzmeerstadt Trabzon geboren. Zum Studium ging er an die Universität in Istanbul, wo er einen Abschluss in Betriebswirtschaft und Management erwarb. Anschließend arbeitete er im Baubetrieb seiner Familie, bevor er 2009 in die Politik ging. Bei den Kommunalwahlen 2014 wurde er zum Bezirksbürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beylikdüzü gewählt.

In dem Mittelklasseviertel am Marmara-Meer erwarb er sich den Ruf eines kompetenten und unideologischen Machers, wie Berk Esen von der Bilkent Universität sagt. Bei öffentlichen Auftritten wirkt der großgewachsene Mann mit der schmalen Brille stets ruhig. "Imamoglu ist aufgeschlossen und ein Mann des Kompromisses, der gerne gemeinsam am Tisch Probleme bespricht", sagte sein Pressesprecher Murat Ongun im Wahlkampf.

Während sein Rivale Yildirim als früherer Ministerpräsident landesweite Bekanntheit genoss, setzte Imamoglu auf sein Graswurzelnetzwerk. Statt des großen Auftritts vor tausenden Anhängern suchte der CHP-Kandidat das Gespräch mit Geschäftsleuten und Wählern. "Meine beste Waffe ist derzeit die jahrtausendealte Methode der Mundpropaganda", sagte Imamoglu bei einer Wahlkampftour.

Im Wahlkampf pflegte er sein Image als lösungsorientierter Pragmatiker. "Wo Imamoglu ist, ist auch eine Lösung", war sein Wahlkampfmotto. In der Wahlnacht trat er immer wieder vor die Presse, um seine Anhänger zur Wachsamkeit aufzurufen. Nachdem Yildirim sich gegen Mitternacht zum Sieger erklärt hatte, forderte Imamoglu, zuerst das Ende der Auszählung abzuwarten. Spät in der Nacht reklamierte er dann selbst den Sieg für sich.

"Wir wollen baldmöglichst mit der Arbeit beginnen, um unserem Volk zu dienen", sagte er bei einer Pressekonferenz und betonte seinen Willen zur Zusammenarbeit mit allen Institutionen in der Türkei. Nicht zuletzt dürfte er dabei an den Stadtrat gedacht haben, der weiter in der Hand der AKP sein wird. Denn auch wenn die Opposition das Oberbürgermeisteramt erobert hat, bleiben die meisten Bezirke unter Kontrolle der Regierungspartei.

Ob sich Imamoglu gegenüber der Regierung wird behaupten können, ist offen. Doch wenn er sich als Bürgermeister bewähre, könne die CHP womöglich ihre Wählerbasis erweitern, sagt der Politikwissenschaftler Esen. Dann könne Imamoglu zu einer "nationalen Figur" werden. Tatsächlich war das Rathaus schon einmal das Sprungbrett für höhere Aufgaben: Denn auch Erdogan begann seine politische Karriere 1994 als Bürgermeister in Istanbul. (AFP)