Syrien - zwischen Boykott und Wiederaufbauhilfe

Mit Sanktionen versuchen die USA, das Assad-Regime in Syrien zur Demokratisierung zu bewegen. Doch die Politik der Härte spielt vor allem Russland in die Hände. Auch die russisch-orthodoxe Kirche zeigt Präsenz.

Straßenschlachten zwischen kurdischen Demonstranten und türkischen Nationalisten in mehreren europäischen Städten haben am letzten Juniwochenende daran erinnert, dass der Konflikt in Syrien nach langem Corona-Schlaf wieder virulent ist. Anlass für die Zusammenstöße war ein gezielter Drohnenangriff der Türkei auf ein Treffen des "Syrischen Demokratischen Rates" bei Kobane, wo Kurden und vor allem Kurdinnen 2014 den Vormarsch der Terrormiliz "Islamischer Staat" gestoppt hatten. Jetzt kamen drei ihrer führenden politischen Aktivistinnen ums Leben. Der Vorfall zeigt nicht nur die schon in Libyen bewiesene Treffsicherheit der selbst entwickelten türkischen Lenkwaffen. Er beweist auch die Entschlossenheit Ankaras, ein Erbteil des syrischen Bürgerkriegs an sich zu reißen.

Dieser scheint zwar nicht ganz beendet, doch ziemlich eingeschlafen zu sein. Das Regime von Präsident Baschar al-Assad hat mit entscheidender russischer und iranischer Waffenhilfe Syriens Kernland von Aleppo über Hama, Homs und Damaskus bis zum Golan zurückerobert. Ein Rest von Rebellion wird im nordwestlichen Idlib von Russen und Türken vor ihrem gänzlichen Auslöschen bewahrt, um Assad nicht zu mächtig werden zu lassen. Den Nordosten jenseits des Euphrat kontrollieren die kurdisch-aramäischen "Syrischen Demokratischen Kräfte" (SDF). Der Versuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, sich dort einen breiten "Sicherheitsgürtel" herunterzuschneiden, ist über bescheidene Bodengewinne nicht hinausgekommen.

Mehr oder weniger herrscht heute in fast ganz Syrien Nachkriegszeit. Die ist aber mit ihren Nöten mindestens ebenso beängstigend wie die Schrecken des Bürgerkriegs mit Regime- und Islamistenterror. Die Lebensmittelpreise - in den Jahren der Kämpfe noch strikt kontrolliert - haben sich zuletzt vervierfacht. Viele Einwohner haben nur mehr einmal am Tag zu essen, und dann oft nur Brot. UN-Hilfskoordinator Halil Kurt vermutet langfristige Gesundheitsstörungen.

Abgesehen von diesem täglichen Überlebenskampf schon fast zehn Millionen verarmter und unterernährter Menschen haben die meisten Jugendlichen aufgrund des Krieges seit Jahren keine Schule mehr besucht, sind aber inzwischen auch zu alt, um noch in den im Herbst wiederbeginnenden Schulbetrieb eingegliedert zu werden. In Syrien wächst eine Generation von Analphabeten heran. Von all dem sah sich zuletzt auch die internationale Syrien-Geberkonferenz in Brüssel gefordert, eine weitere von schon vielen. Und sie wird nicht die letzte sein ...

Hingegen unterlaufen die USA gezielt Syriens soziale Sanierung und den Wiederaufbau des Landes. Präsident Donald Trumps "Caesar Syria Civilian Protectian Act" mit seinen Sanktionen will vorgeblich das Assad-Regime zur Demokratisierung zwingen, lässt aber nicht die Machthaber, sondern das syrische Volk noch mehr leiden. Wenn Washington mit einem Aufstand hungriger Massen rechnet, so liegt es damit vermutlich daneben. Der Wille der Syrer zu politischem Aufbegehren ist nach neun Bürgerkriegsjahren auf lange Sicht gebrochen. Beobachter in Damaskus halten "Caesar" jedenfalls für "desaströs", vergleichen es mit dem das besiegte Deutschland bedrohenden "Morgenthauplan" nach dem Zweiten Weltkrieg. Statt "Caesar" hätte Syrien jetzt einen zweiten Marshallplan nötig.

Kein Wunder, dass die Syrer die Russen als ihre Freunde sehen und suchen. Sie betrachten diese nicht nur als Retter aus der im Bürgerkrieg aufgebrochenen Islamisten-Gewalt. Dazu begrüßen jetzt die griechisch-orthodoxe Kirche als stärkste christliche Gemeinschaft, aber auch andere Orthodoxe, Katholiken und gemäßigte Muslime die kirchliche Wiederaufbauhilfe aus Moskau, die fast zeitgleich mit dem amerikanischen Boykott eingesetzt hat.

Zwar wird von katholischer Seite schon längst ungleich mehr für die Menschen in Syrien getan, doch hat Wladimir Putin systematisch die einstige militärisch-ideologische Achse zwischen der Sowjetunion und dem Regime der syrischen Baath-Sozialisten in weltorthodoxe Verbundenheit mit den Orientchristen umgemünzt. Schon 2005 ließ er am überlieferten Ort der Bekehrung des heiligen Paulus in Kaukab bei Damaskus eine Statue des Völkerapostels errichten. Am 29. Juni 2020 wurde dort jetzt so eindrücklich wie noch nie syrisch-russische Verbrüderung gefeiert. (KNA)