Eine ideologisch überfrachtete Debatte

Kleine Konflikte ziehen in diesen Tagen große Kreise. Zwei syrische Schüler verweigern ihrer Schweizer Lehrerin den Handschlag, und Europa echauffiert sich. Ein Kommentar von Charlotte Wiedemann

Von Charlotte Wiedemann

Alles, was mit der Stellung der Frau und dem Islam zu tun hat (oder zu haben scheint), wird im gegenwärtigen Kulturkampf zur Munition. Und immer häufiger zieht es Frauen aus Sorge um ihre Selbstachtung auf eine Seite der Front, die ich als die falsche betrachte.

Besser wäre es, gegenüber solch symbolträchtigen Konflikten einen Feminismus entwickeln, der sich von islamfeindlichen Denkmustern befreit. Das Beispiel des verweigerten Handschlags ist dafür besonders interessant: Weil hier nur das Verhalten muslimischer Männer wahrgenommen wird, obwohl auch ein Teil der muslimischen Frauen den Handschlag ablehnt. Und weil es ausschließlich um ein Problem des Islam zu gehen scheint, obwohl sich Islam und Judentum in dieser Hinsicht sehr ähnlich sind.

Nur der Vollständigkeit halber also ein Hinweis, der gerade in der Jüdischen Allgemeinen erschien: "Viele religiöse Jüdinnen und Juden befolgen das Konzept 'Schomer Negia' (wortwörtlich 'Achtsamkeit bezüglich Berührung oder Kontakt') und vermeiden grundsätzlich möglichst jegliche Berührung des anderen Geschlechts." Ob dies auch für den Handschlag gelten solle, sei unter Gelehrten kontrovers.

Vielfältige Verhaltensweisen

So viel anders ist es im Islam nicht. Zwar lässt sich ein generelles Berührungsverbot zwischen Unverheirateten durch einige Propheten-Worte normativ herleiten, aber Millionen muslimische Männer und Frauen auf der Welt geben dem anderen Geschlecht trotzdem die Hand. Die Bandbreite von Verhalten ist dabei enorm, wie so oft im Islam.

Als Beispiele einige Situationen, wie ich sie in muslimischen Mehrheitsgesellschaften erlebe. Manche Geistlichen strecken mir die Hand entgegen; das würde ein frommer Bauer eher nicht tun. Ein religiöser Unternehmer, der mir seine Firma zeigte, gab mir draußen die Hand und sagte dabei: Gib drinnen niemandem die Hand. Er wusste, dass seine Angestellten weniger flexibel waren als er. In einem iranischen Regierungsbüro machte man sich hingegen kollektiv lustig über den einzigen Beamten, der mir nicht die Hand reichen mochte.

Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga; Foto: Reuters
Empörung über Handschlag-Dispens: "Dass ein Kind der Lehrperson die Hand nicht gibt, das geht nicht", erklärte die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga. Der Handschlag sei Teil unserer Kultur, gehöre zum Alltag in der Schweiz. "So stelle ich mir Integration nicht vor, auch unter dem Titel Religionsfreiheit kann man das nicht akzeptieren", so die Sozialdemokratin. Man müsse "absolut klarstellen", dass der Handschlag dazugehöre - und dürfe in der Angelegenheit "kein Fragezeichen aufkommen" lassen.

Nicht die Art des Grüßens, sondern eine dahinterstehende Idee mag man als typisch islamisch ansehen: Alles zu unterlassen, was den Eindruck einer Anzüglichkeit erwecken könnte. In muslimischen Ländern bleibt die Tür meines Hotelzimmers stets offen, wenn ein Mann dort etwas repariert, während ich im Raum bin. Und wenn ein Aufzug sehr eng ist, dann warten ein Mann oder eine Frau lieber etwas länger im Flur, als sich neben eine Person des anderen Geschlechts zu drängen. Westler empfinden das leicht als übertriebene Prüderie. Man kann es auch Rücksichtnahme nennen.

Konflikte lauern überall dort, wo sich zwei Seiten gegenüberstehen, deren kulturelle Bildung sich auf das je eigene Milieu beschränkt. Also etwa ein syrischer Junge, der nur die Sitten seiner konservativen Familie kennt, und eine europäische Lehrerin, die nicht weiß, dass sich der orientalische Teil der Welt mit der rechten Hand auf dem Herzen grüßt – und dies kein Weniger an Respekt bedeutet.

Selbsterfüllende Prophezeiung

Fremdkulturelle Bildung ist ja in anders gelagerten Fällen durchaus vorhanden; wie akzeptiert, sogar schick sind buddhistische Gesten des Grüßens geworden! Durch männliche Muslime fühlen sich hiesige nicht-muslimische Frauen hingegen fast reflexartig angegriffen, weil es für deren Verhalten nur ein einziges Interpretations-Schema gibt: Der Islam ist frauenfeindlich. Dieses Image ist mittlerweile so manifest, dass es andauernd zur self fulfilling prophecy kommt.

Deshalb kann die Verweigerung des Händedrucks auch als typisch männlich gelten, obwohl ein Teil der Musliminnen gleichfalls nicht die Hand reicht. Denn die Muslima zählt nicht. Sie wird als ein zurückhaltendes, nicht-aktives Wesen gesehen, ein Geschöpf, das hinnimmt und vermutlich leidet – jedenfalls setzt sie keine Regeln. Verweigert sie einem nicht-muslimischen Mann den Händedruck, wird er das mit ihrer Schüchternheit und ihrer Unterdrückung erklären. Das arme Ding! Wahrscheinlich schlägt ihr Mann/Bruder/Vater sie sonst!  Der Muslima wird also ihr Verhalten verziehen, weil sie am Kreuzungspunkt von Islam- und Frauenfeindlichkeit lebt: Sie ist nur Objekt. Sie entscheidet nicht. Kein Mann wird durch sie um seine Ehre gebracht.

Die Verachtung der muslimischen Frau erweist sich einmal mehr als Grundproblem unseres Umgangs mit dem Islam. Würden wir die Handlungsweisen von Musliminnen mehr achten, dann wäre allen gedient – und manche nicht-muslimische Frau könnte mit größerer Gelassenheit auf Phänomene reagieren, die ihr fremd sind.

Charlotte Wiedemann; Foto: DW
Charlotte Wiedemann: "Ich plädiere dafür, den Händedruck nicht ideologisch zu überfrachten. Seine Verweigerung in die Nähe von Verfassungsfeindlichkeit zu rücken, ist blanker Unsinn. Aber ich möchte ihn auch nicht zum 'beliebigen und verzichtbaren Brauch' herabgewürdigt sehen, wie es ein selbsternannter 'Zentralrat' Schweizer Muslime tut."

Ich plädiere dafür, den Händedruck nicht ideologisch zu überfrachten. Seine Verweigerung in die Nähe von Verfassungsfeindlichkeit zu rücken, ist blanker Unsinn. Aber ich möchte ihn auch nicht zum "beliebigen und verzichtbaren Brauch" herabgewürdigt sehen, wie es ein selbsternannter "Zentralrat" Schweizer Muslime tut. Allein ein Blick auf die Metaphern unserer Sprache zeigt: Der Handschlag ist eine schöne und zu bewahrende Geste, eher rar als Ausdruck von Frieden und Versöhnung. Diese Geste praktizieren zu können, hat nichts mit Wohlverhalten, mit "Integration" in staatlichem Sinne zu tun, sondern mit Zwischenmenschlichkeit.

Keine theologische Begründung für Beleidigung

Eine ausgestreckte Hand abzulehnen, ist ein Affront, und es gibt im Islam keine theologische Begründung für Beleidigung. Gewiss, eine Frau könnte diese Situation vermeiden, indem sie von sich aus keine Hand ausstreckt; das halte ich jedoch nur in muslimischen Gesellschaften für empfehlenswert.

Verweigert ein Schüler seiner Lehrerin den Händedruck, dann reduziert er damit eine Autoritätsperson auf ihr Geschlecht. Das ist inakzeptabel. Und es scheint mir generell ein sinnvolles Erziehungsziel, dass junge Muslime und Musliminnen hierzulande in der Lage sind, einen Handschlag zu praktizieren, wenn es die Situation und die Höflichkeit erfordern. Wer möchte, kann im Mehrfach-Kontakt immer anders gelagerte Gruß-Präferenzen deutlich machen.

Entscheidend ist aus feministischer Sicht, am Arbeitsplatz, in diesem Fall der Schule, einen sexualisierten Blick auf die Frau nicht zu dulden. Dafür gibt es auch im Islam genug Anknüpfungspunkte. Der Schüler mit der Lehrerin, das ist übrigens ein klassisches Sujet der Pornografie. Sie wurde nicht von muslimischen Einwanderern erfunden.

Charlotte Wiedemann

© Qantara.de 2016

Die politische Journalistin und Buchautorin Charlotte Wiedemann lebte für einige Jahre in Malaysia und bereiste zahlreiche islamisch geprägte Länder Asiens und Afrikas. In ihren Werken untersuchte sie u.a. die jüngsten gesellschaftlichen Umbrüche in Tunesien, Ägypten und im Jemen. 2012 erschien ihr Buch "Ihr wisst nichts über uns! Meine Reisen durch einen unbekannten Islam". Ihr jüngstes Buch "Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben" ist im Verlag PapyRossa erschienen.