Sprengfallen und Misstrauen - Gefährliche Hinterlassenschaften des IS

Im West-Erbil-Krankenhaus kommen täglich Dutzende von Schwerverletzten aus der Stadt Mossul an. Gekämpft wird dort zwar im Moment nur sporadisch. Doch die IS-Terroristen haben Sprengfallen hinterlassen und feuern Granaten auf den Ostteil der Stadt ab.Von Anne-Beatrice Clasmann

Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ist im Irak auf dem Rückzug. Doch es wird wohl noch sehr lange dauern, bis der Alltag in alle befreiten Gebiete zurückkehrt.  Dunja liegt mit weit aufgerissenen Augen im West-Erbil-Unfallkrankenhaus. Der Schrecken steht der zehnjährigen Irakerin ins Gesicht geschrieben. Vor zwei Tagen hat sie auf der Straße neben ihrem Haus im Ostteil der Stadt Mossul eine Cola-Dose gefunden. Als das Mädchen die Dose öffnete, detonierte die Sprengfalle, die wohl die Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bei ihrem Rückzug in den Westteil der Stadt zurückgelassen hatten.

Splitter drangen durch Dunjas Bauchdecke. Ihre Cousine, Hasna Abdullah (35), hat sie aus der Stadt gebracht. In einer nahe gelegenen Gesundheitsstation, in der auch Frontkämpfer behandelt werden, konnten die Ärzte dem Kind nicht helfen. Also schickten sie Dunja in die Kurden-Hauptstadt Erbil. Im Nebenzimmer steht Saad Nadschm Mahmud weinend neben dem Bett seines sechsjährigen Sohnes. Auch er kommt aus dem Osten von Mossul, aus dem sich der IS im Januar zurückziehen musste. «Papa, gib mir Geld!», hatte der kleine Wakas gerufen. Gemeinsam mit zwei Cousins wollte der schmächtige Junge loslaufen, um Süßigkeiten zu kaufen.

Wenige Sekunden später hörte Mahmoud, wie eine Granate einschlug. Einer seiner Neffen war sofort tot. Der Zweite starb fünf Minuten später. Seinen eigenen Sohn brachte er mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus, wo er jetzt, einen Tag nach der Attacke, erneut operiert werden muss. «Aus der Sicht der IS-Leute sind wir Ungläubige, weil wir in unseren Häusern im Osten von Mossul geblieben und nicht mit ihnen geflohen sind», sagt Mahmoud. «Deshalb bombardieren sie uns von der anderen Seite des Flusses.»

Aus der Stadt Tikrit waren die IS-Terroristen schon im Frühjahr 2015 vertrieben worden. Doch der arabische Sunnit Ali Hussein (23) traut sich immer noch nicht zurück. Mit mehr als 20 000 Vertriebenen aus anderen Landesteilen lebt er im Flüchtlingslager Debaga in der Provinz Ninive. Warum er lieber bei Minustemperaturen im Zelt schläft, anstatt in das Haus seiner Familie zurückzukehren? «Ich habe Angst vor dem Weg zurück, denn da gibt es Straßensperren der Volksmobilisierungseinheiten», antwortet er. Diese schiitischen Milizen hätten seinen Onkel auf dem Rückweg nach Tikrit abgefangen und ohne Anklage für ein Jahr und drei Monate ins Gefängnis gesteckt.

«Sie haben ihn gefoltert und behauptet, er habe mit dem IS gekämpft, dann entließen sie ihn, einfach so», erzählt er.  Für Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) ist es heute der dritte Besuch im Nordirak. Er hat hier schon viele grauenhafte Geschichten gehört, viel Leid gesehen. Vor allem seine Begegnungen mit den Jesidinnen, die von den IS-Kämpfern als Sexsklavinnen missbraucht wurden, kann er nicht vergessen. In Debaga stellt er sich zu Hamid Jassin Fajjad, Jahrgang 1953. Der würdevolle Mann erhebt sich von seiner Matratze. Er geht am Stock, hat ein rot-weißes Tuch um den Kopf geschlungen.

Sein Heimatdorf Baad liegt in der Nähe von Mossul und wird noch vom IS kontrolliert. Mehr als zwei Jahre hat er dort unter IS-Herrschaft gelebt, bevor er vor zwei Monaten mit seiner Frau und den sechs Kindern floh. «Die IS-Leute kamen zum Teil aus dem Ausland, aber es waren auch welche darunter aus unserer Region, die wir kannten», sagt er. Er habe sich einen langen Bart wachsen lassen müssen. Frauen und Mädchen hätten das Haus nur in Notfällen verlassen dürfen. «Wenn jemand auch nur einen kleinen Fehler machte, wurde er enthauptet», sagt Fajjad. 

Müller trifft während seiner zweitägigen Reise auch Vertreter der kurdischen Autonomieregierung. Doch der Schlüssel zur Befriedung des Landes liegt nicht in Erbil, sondern in der Hauptstadt Bagdad. Bei einer Regierung, über die keiner von Müllers Gesprächspartnern ein gutes Wort verliert. Nicht die Vertriebenen, nicht die Helfer, nicht die Vertreter der christlichen Minderheit und auch die kurdischen Politiker nicht. Was am Ende bleibt, sind humanitäre Hilfe und große Ratlosigkeit. (dpa)