Soziologe fordert entschiedeneres Vorgehen gegen Rechtsterrorismus - Kritik an Polizei zum Jahrestag des Hanauer Anschlags

Am 19. Februar jährt sich der rassistische Anschlag in Hanau mit zehn Mordopfern. Eine Angehörige und ein Extremismusforscher fordern mehr Konsequenzen.



Berlin/Jena. Der Jenaer Soziologe und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent hat entschiedenere Maßnahmen gegen Rechtsterrorismus in Deutschland gefordert. Seit 1990 habe es nach Angaben des Bundesinnenministeriums 109 Opfer rechtsterroristischer Taten gegeben, nach Angaben von Initiativen gegen Rechtsextremismus rund 200 Opfer, sagte er am Donnerstag anlässlich eines vom Mediendienst Integration mit Sitz in Berlin organisierten Gesprächs zum Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau am 19. Februar 2020. Viele der Anschläge seien aber nicht aufgeklärt worden.



Der Direktor des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) kritisierte, dass es in Deutschland anders als in Großbritannien oder den USA noch kein Strafgesetz gegen Hasskriminalität gebe. Viele rassistische Taten, die aus der Mehrheitsgesellschaft heraus begangen würden, würden nicht als extremistische Kriminalität begriffen. Auch sei die Polizei für die Erkennung und Erfassung solcher Taten noch unzureichend ausgebildet.



Den Anschlägen von Hanau 2020, Halle 2019 und dem Mord an Walter Lübcke 2019 sei gemeinsam: «Das primäre Mordmotiv war Rassismus», erklärte Quent. Zwar hätten die Täter die Morde alleine begangen, «aber niemand radikalisiert sich im luftleeren Raum», sagte der Soziologe. «Rechtsextremistischer Terror ist nicht auf Strukturen angewiesen, hat aber immer einen Kontext.» Der Wissenschaftler betonte: «Es liegt in der Hand der Gesellschaft, die Wahrscheinlichkeit von rassistischen Taten zu minimieren.»



Die Anschläge von 2019 und 2020 hätten eine Sensibilisierung gegen Rechtsterrorismus in Deutschland bewirkt, befand Quent. Die Bildung eines Kabinettausschusses der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus und seine ersten Maßnahmen gingen in die richtige Richtung.



Die Schwester des am 19. Februar 2020 in Hanau ermordeten Hamza Kurtovic, Ajla Kurtovic, beklagte, dass die Angehörigen immer noch nicht genau wüssten, was in der Tatnacht geschah. Überlebende hätten berichtet, dass die Polizei überfordert gewesen sei. Beamte hätten ihren Eltern am späten Abend auf Anfrage nicht mitgeteilt, dass ihr Bruder tödlich verwundet in einem Krankenhaus lag und kurz nach Mitternacht starb. Den Leichnam hätten sie erst eine Woche später in der Gerichtsmedizin sehen dürfen. «Bisher hat es kein Gesprächsangebot der Polizei und keine Entschuldigung gegeben», sagte Kurtovic.



Nur die Generalstaatsanwaltschaft und das Bundeskriminalamt hätten im vergangenen Juni ein Gespräch mit den Angehörigen der Opfer geführt. «Wir Angehörigen wünschen, dass die Tat lückenlos aufgeklärt wird», betonte Kurtovic. «Ich vertraue auf den Rechtsstaat, dass er alles tut, um solche Taten zu verhindern», sagte Kurtovic. «Aber das Vertrauen wird immer wieder auf eine sehr harte Probe gestellt.»



Die Solidarität der Stadtgesellschaft nach dem Anschlag sei riesig gewesen, berichtete Kurtovic. «Auch von Unbekannten haben wir so viel Solidarität und Unterstützung erfahren. Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) war von Tag eins an an unserer Seite. Hanau hat zusammengehalten.»



«Ich hätte mir niemals vorstellen können, das ein Hanauer Hanauer erschießt», sagte der Opferbeauftragte der Stadt, Andreas Jäger. «Wir müssen jeden Tag für Demokratie und Vielfalt kämpfen, die Demokratie verteidigen und erlebbar machen.» Die Stadt habe zu Monatsbeginn ein «Zentrum für Demokratie und Vielfalt» gegründet und strebe eine breite zivilgesellschaftliche Beteiligung an. (epd)