Sozialdrama "Oray" kommt ohne erhobenen Zeigefinger aus

Glänzender Debütfilm um einen jungen Deutschtürken, der nach einem Ehestreit zwischen der Liebe zu seiner Frau und einer strengen Auslegung des Korans hin- und hergerissen wird.

Nach einem heftigen Streit schleudert der junge Muslim Oray seiner Frau Burcu ein dreimaliges "talaq" entgegen. Nach strenger Auslegung des islamischen Rechts folgt darauf eine dreimonatige Trennung oder sogar die Scheidung. Oray zieht aus Hagen zu einem Freund nach Köln, engagiert sich in der Moschee, kann aber das Kiffen nicht lassen. Er kümmert sich um einen jungen Roma namens Ebu, der wie er aus einer mazedonisch-stämmigen Familie kommt. Er trifft auch Burcu wieder, vor Ablauf der Trennungsfrist. Die beiden stellen fest, dass sie sich immer noch mögen und lieben.

Oray lernt, mit der Doppelmoral zu leben - seiner eigenen und der seiner Freunde. Eben noch hat er ein flammendes Bekenntnis für den reinen Glauben ins Internet gestellt, als er mit Bilal streitet, dem Gemeindevorsteher. Der versucht, eher verzweifelt als radikal, die Gemeinde mit einem Null-Toleranz-Kurs zusammenzuhalten: Ebu fliegt aus der Moschee, nachdem er mit dem Dealen angefangen hat, und Oray soll sich gefälligst an die Gesetze des Islam halten. Das möchte Oray auch, aber er möchte auch mit Burcu zusammen sein. Der impulsive, emotionale Oray beschimpft den Imam als "Student" - gebildet, aber lebensfremd.

Orays Freunde, die die Widersprüche des Lebens durchaus mit einem Augenzwinkern kommentieren, sind anders. Die Zugehörigkeit zum Islam und die Gespräche über den Koran geben ihnen Halt. Dazu gehört aber auch ein selbstironischer Abstand. "Und jetzt einen trinken", heißt es einmal, als man gemeinsam aus der Moschee kommt. Natürlich ist das nur ein Witz, aber ab und zu wird doch getrunken und gekifft. Welcher Mensch, der nicht lebensfremd ist, kommt schon ohne Widersprüche aus, wenn dies nicht mal dem Lebensfremden gelingt?

"Oray" spielt auf Hinterhöfen, in abgewohnten Neubauten aus den 1960er-Jahren, und in Gebetshäusern, die in ehemalige Fabrikgebäude eingezogen sind. Die Protagonisten von Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay haben sich in der Nische eingerichtet, aus der sie die Mehrheitsgesellschaft nicht entlässt. Der Mangel an Partizipation schmerzt zwar in ihren Seelen, ist aber kein politisches Thema. Sie sind jung, sie fühlen sich stark, wollen das echte Leben und den Zusammenhalt der Gemeinschaft, Individualismus und Solidarität, und das alles gleichzeitig und sofort. Zugleich müssen sie sich zwischen der Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft und dem Anpassungsdruck der Nische einrichten.

Mit seinem Ensemble aus gelernten und nicht gelernten Schauspielern, die ähnliche biografische Erfahrungen wie ihre fiktionalen Alter egos gemacht haben, wird "Oray" zu einer energiegeladenen, frischen und geradeaus erzählten Bestandsaufnahme. Es gibt keine dramaturgischen Winkelzüge, um die Protagonisten in die Nähe eines "Heiligen Kriegs" oder von Ehrenmord-Ideen zu rücken. Folglich fehlt in dieser Geschichte eines jungen Mannes zwischen allen Stühlen jeder erhobene Zeigefinger, mit dem in herkömmlichen Muslim-Plots die Welt in Gut und Böse zerschnitten wird.

Büyükatalay skizziert die Komplexität eines Systems, dessen Wertehorizont genauso mit dem richtigen Leben abgeglichen wird wie in allen anderen Teilen der Gesellschaft auch. Mit lauten, aber labilen Männerfiguren und recht selbstbewussten Frauen, die in diesem Fall - es geht ja um eine Männerbiografie - für einen Support sorgen, der von Oray klare Kante verlangt: Steh zu uns!

Hier wird "Oray" genau zu jenem universellen Liebesfilm, der er sein möchte. Mit viel Feingefühl für Psychologie, für die Sehnsüchte, Wünsche, Ängste und Widersprüche einer Gemeinschaft, die von außen meist als hermetisches Milieu wahrgenommen wird.

Getragen wird der Film von dem überzeugenden Hauptdarsteller Zejhun Demirov, der für seine Rolle als Oray zu Recht mit dem Götz-George-Nachwuchspreis ausgezeichnet wurde. (KNA)