Skandal um verschwundene Kinder in Israel: Graböffnung am Montag

Die Affäre um verschwundene Kinder von Juden aus dem Jemen und anderen orientalischen Ländern ist eine der schmerzhaftesten der israelischen Geschichte. Auf der Suche nach der Wahrheit soll nun am Montag ein Grab geöffnet werden. Von Sara Lemel, dpa

Tel Aviv. «Usiel Churi, Sohn von Michael, 7.4.1953», steht auf dem schlichten Grabstein auf dem Segula-Friedhof in Petach Tikva bei Tel Aviv. Doch liegt das 1952 geborene Kind wirklich hier begraben? Oder lebt es womöglich noch? Diese Fragen quälen die Familie schon seit fast 70 Jahren. Usiel ist eines von Tausenden von Kindern jüdischer Einwanderer aus dem Jemen und anderen orientalischen Ländern, die laut Zeugenaussagen in den 1950er Jahren in Israel unter ungeklärten Umständen verschwanden.



Usiels Grab soll am Montag geöffnet werden - das erste seit Erlass eines entsprechenden Gesetzes 2018. Falls in dem Grab Überreste gefunden werden, sind DNA-Untersuchungen geplant. Um die Graböffnung gab es bis zuletzt juristisches Gezerre, nach Angaben der Familienanwältin ordnete ein Gericht den Schritt dann nach einer Verhandlung am Sonntag abschließend an.

«Seit ich mich erinnern kann, hängt diese Affäre wie eine dunkle Wolke über meiner Familie», erzählt Usiels jüngere Schwester, die 64-jährige Masal Berko. Sie ist das sechste von insgesamt acht Kindern der Familie Churi. Die Eltern waren 1948 von der tunesischen Insel Dscherba nach Haifa gekommen.



Laut der israelischen Organisation Amram, die sich für die Wahrheitsfindung in der Affäre einsetzt, stammten zwei Drittel der verschwundenen Kinder aus dem Jemen, der Rest aus Nordafrika sowie dem Iran und dem Irak, einige wenige aus der Balkan-Gegend.



Mit der «Operation fliegender Teppich» waren rund 50 000 Juden aus dem Jemen in den jungen Staat Israel gekommen. Die Umstände in provisorischen Aufnahmelagern waren oft chaotisch. In der Zeit verschwanden zahlreiche Babys und Kleinkinder unter ungeklärten Umständen - viele jemenitische Juden warfen den israelischen Behörden vor, sie gezielt an kinderlose Holocaust-Überlebende weitergegeben zu haben. Den Eltern habe man erklärt, die Kinder seien im Krankenhaus gestorben und sofort begraben worden. Nach Schätzungen geht es um 1500 bis 5000 Kinder.



Viele Schicksale konnten nie eindeutig geklärt werden - so wie das von Usiel. Der Junge erkrankte im Alter von 10 Monaten an Kinderlähmung. Für die Nachbehandlung mussten die Eltern, die damals außer Usiel schon drei weitere Kinder hatten, weit fahren. «Die Sozialbehörde bot meinen Eltern deshalb Hilfe an, sie nahmen Usiel mit und versprachen, ihn nach der Behandlung zurückzubringen», erzählt die Schwester. «Das Kind war gesund, er hinkte nur noch ein bisschen. Ein paar Tage später wurde meinem Vater dann plötzlich mitgeteilt, der Junge sei gestorben.» Die Krankenschwestern hätten ihm nur ein «Bündel in weißen Laken» gezeigt und gesagt, sie würden das Kind begraben. Ihre Eltern seien damals gutgläubige Neueinwanderer gewesen.



Später begannen die Fragen. Es habe immer wieder Unstimmigkeiten und Hinweise gegeben, dass das Kind noch leben könnte. Vor rund drei Jahrzehnten habe man ihnen dann ein Grab mit Grabstein in Petach Tikva gezeigt.



Die Familie will am Montag mit einem unabhängigen Experten zur Exhumierung kommen. «Wir vertrauen dem Staat leider nicht», sagt Berko. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums könnte eine DNA-Untersuchung «mindestens einige Wochen» dauern.



Die betroffenen Familien werfen den israelischen Behörden eine systematische Verschleierung seit Jahrzehnten vor. Die europäisch geprägte Gründergeneration habe damals auf Einwanderer aus arabischen Ländern herabgeschaut und sie für primitiv gehalten. «Rassismus spielte sicherlich eine Rolle», meint Berko.



Nach einer Öffnung von Archiven 2016 war der zuständige Minister Zachi Hanegbi zum Schluss gelangt, Hunderte jemenitischer Kinder seien den Eltern weggenommen und weggegeben worden. Im vergangenen Jahr hatte die israelische Regierung Bedauern ausgedrückt und Entschädigungszahlungen in Höhe von 162 Millionen Schekel (rund 46 Millionen Euro) für betroffene Familien angekündigt. Dies wurde jedoch von Angehörigen als «Schweigegeld» verurteilt.



Was erwartet Berko sich von der Graböffnung am Montag? «Wenn man uns eine DNA-Probe eines unabhängigen Experten erlaubt, bin ich zufrieden», sagt sie. «Aber ich glaube ehrlich gesagt, dass das Grab leer sein wird.» (dpa)