Rückkehr in den Krieg - der Massenexodus der Afghanen aus Pakistan

Ganz unerwartet kehren Hunderttausende afghanische Flüchtlinge aus Pakistan zurück. Wieso? Eine neue Eiszeit zwischen Pakistan und Afghanistan spielt eine Rolle. Aber es steckt noch mehr dahinter. Und humanitäre Helfer warnen vor tödlichen Konsequenzen. Von Christine-Felice Röhrs

In der Nacht sind neue Lastwagen auf den Parkplatz gerollt. In langen Reihen stehen die bunt bemalten Riesen nun nebeneinander, jeder ein ganzes Leben im Bauch. Strohballen, Matratzen, Kanister, Ziegen, sogar Fenster und Türen lugen über die nach oben offenen Rahmen der Ladeflächen.

Auf der Spitze dieser Lebenshaufen hocken Männer, Frauen, Kinder und blinzeln müde in die Morgensonne. Tausende Afghanen warten an diesem Tag am Stadtrand von Kabul auf ein wenig Geld, das die Vereinten Nationen ihnen geben wollen für ein neues Leben im alten Heimatland.

Aber das neue Leben wird für diese Reisenden nicht mehr als eine Rückkehr in den Krieg. In großen Wellen kommen sie derzeit aus Pakistan, wohin die meisten schon während der 1980er und 90er Jahre geflohen waren, vor der sowjetischen Besatzung und dem blutigen Widerstand der Mudschahedin-Kämpfer, später vor den Taliban - zurückgeworfen in ein Land, in dem die Islamisten sich wieder ausbreiten und jedes Jahr mehr Zivilisten sterben.

Jahrzehntelang hat Pakistan eine der größten afghanischen Flüchtlingsgemeinden der Welt beherbergt - rund 1,5 Millionen bei den Vereinten Nationen registrierte Flüchtlinge und etwa eine Million unregistrierte Afghanen.

Aber seit einigen Monaten ist das Verhältnis zwischen Afghanistan und Pakistan auf einem neuen Tiefpunkt. Afghanistan wirft Pakistan vor, die Taliban zu unterstützen, Friedensgespräche sind gescheitert, jeder neue Anschlag verschärft die anti-pakistanische Rhetorik. In Pakistan wiederum dokumentieren die UN tausendfach Übergriffe von Sicherheitskräften auf die Afghanen im Land. Die Aufenthaltserlaubnis für die, die als Flüchtlinge registriert sind, wurde im Sommer gerade mal bis Dezember erneuert.

Und plötzlich ist zwischen den Ländern eine Art Völkerwanderung in Gang gekommen. «Diesen Massenexodus hat keiner so kommen sehen», sagt ein Mitarbeiter des UN-Flüchtlingswerks UNHCR in Kabul.

Der Leiter für Humanitäres bei den UN, Stephen O'Brien, verkündet deshalb am Mittwoch in Kabul einen Notappell. 150 Millionen Dollar brauche man jetzt, für eine Million «unerwartet vom Konflikt entwurzelte Menschen». Die Zahlen: Bis Dezember sollen 620.000 Afghanen aus Pakistan zurückkommen. Dazu kommen Binnenflüchtlinge, die der sich verschärfende Krieg produziert: nun 400.000 bis Jahresende – 150.000 mehr als die UN ursprünglich kalkuliert hatten.

Einer aus dieser Million ist Habibullah, 52, ein großer, schwerer Mann mit grauem Bart. In Pakistan hatte er eine Herberge. Aber dann verlängerte der Vermieter seinen Vertrag nicht, und jeden Tag kam die Polizei und durchsuchte seine Taschen nach Geld. Mit zehn Mann geht Habibullah nun zurück in den Norden Afghanistans, nach Kundus – in eine der am stärksten umkämpften Provinzen des Landes.

«Welche Wahl habe ich?», fragt Habibullah. «Ein Ort, das ist alles, was ich habe.» Er sei weggegangen, als die Sowjets sein Dorf bombardierten, um Mudschahedin zu töten. «Jetzt bombardieren die Amerikaner mein Dorf, um die Taliban zu vertreiben.» Eine Million Dollar pro Tag zahlen die UN-Mitarbeiter im sogenannten Encashment Center (Bargeldzentrum) derzeit täglich an Rückkehrer aus.

400 Dollar pro Nase bekommen Habibullah und andere - einmalig. «Allein der Lastwagen kostet schon 800 Dollar», sagt Habibullah. Ein Dach über dem Kopf, dann Essen und Holz kaufen, so viel sie können - weiter als bis zum Winter planen die meisten mit diesem Geld nicht.

Eine neue Existenz gründen? Dafür reiche es doch nicht. Hunderttausende andere sind noch schlimmer dran. Denn das Rückkehrergeld ist nur für jene, die in Pakistan bei den UN als Flüchtlinge registriert waren. Die sogenannten Undokumentierten kehren ohne jede Unterstützung in ihr kriegszerrissenes Land zurück.

Eine der größten Nichtregierungsorganisationen im Feld, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC), warnt vor «tödlichen Konsequenzen». Trotzdem treibt Afghanistan die Rückkehr der Afghanen aus Pakistan

nun noch voran - in einer überraschenden 180-Grad-Wende. Jahrelang hatte es geheißen, es gäbe eine soziale und eine Sicherheitskrise, würden die Pakistan-Afghanen plötzlich zurückkehren in das Land, das die meisten seiner Bürger vor Gewalt nicht schützen, geschweige denn mit Bildung, medizinischer Hilfe oder Arbeit versorgen kann.

Nun sind seit Anfang 2015 bereits mehr als 400.000 Afghanen zurückgekommen - mit einer Steigerung im laufenden Jahr und besonders seit Juli. Seit Juli gibt es einen höheren Rückkehrerbonus für registrierte Flüchtlinge. In dem Monat hat aber auch die afghanische Regierung eine Kampagne begonnen, die «Mein Land, mein wunderschönes Land» heißt. Zeit heimzukehren, sagen Gesandte in den afghanischen Gemeinden von Pakistan. Zeit, euer Land mitaufzubauen.

Aber es steckt noch mehr hinter den neuen Versuchen, die Afghanen aus Pakistan hinauszulocken oder zu vertreiben. Gründe sind das, die die Flüchtlinge zu Schachbrettfiguren in Sicherheits- und regionalpolitischen Zügen der beteiligten Regierungen machen.

Ein Grund ist, dass die Taliban in den Flüchtlingslagern von Pakistan neue Kämpfer rekrutieren. Jetzt, da die Taliban jeden Tag stärker würden, sagen afghanische Beamte unter der Hand, wolle man «diesen schädlichen Einfluss endlich eliminieren». Es ist ein riskantes Spiel, bedenkt man, dass die Rückkehrer oft in umkämpfte Provinzen wie Kundus, Baghlan oder Nangarhar zurückgehen, wo zudem humanitäre Helfer an sie nicht mehr herankommen.

Pakistan wiederum beobachtet mit großem Misstrauen die erblühende Kooperation der afghanischen Regierung mit Erzfeind Indien - was, so sagen UN-Mitarbeiter, «offenbar Konsequenzen für die Afghanen im Land hat». Gleich nachdem Afghanistan, Indien und der Iran Ende Mai ein Abkommen zu einem gemeinsamen Hafenprojekt im iranischen Chabahar unterzeichnet hatten, der es Afghanistan erlauben wird, Pakistans Häfen zu vermeiden, sei die «Zahl der problematischen Berichte aus Pakistan noch einmal in die Höhe gegangen».

In beiden Ländern beginnt seit Anfang der Woche das viertägige Eid-Fest. Danach, so sagen sie im Bargeldzentrum der UN in Kabul, rüsten wir uns für noch größere Wellen von Rückkehrern. (dpa)