Hunger, nicht nur nach Essen

Nachdem er sich mit "Songs For Sad Women" der Weiblichkeit und mit "Em Português" der atlantischen Melancholie gewidmet hatte, war es wohl unvermeidlich, dass sich in seinem neuen Werk nun endlich auch die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten widerspiegeln. Wie sich bei Oud-Meister Rabih Abou-Khalil ein Plastikhuhn, Fish & Chips und das Bankett der Bänker zu einem Ohrenschmaus mit politisch-surrealistischen Zügen fügen, hat er Stefan Franzen erläutert.

Am sogenannten Arabischen Frühling rührt ihn nicht die "kalte, politische Seite", sondern viel eher die menschliche. Rabih Abou-Khalil macht sich große Sorgen: "Ich hoffe, ich habe Unrecht. Aber ich denke, dass wir nach den Revolutionen nicht mehr, sondern weniger kulturelle Freiheiten bekommen werden. Die Aufstände lassen sich ja nicht einschränken auf die intellektuelle Protestbewegung der Hauptstädte. Kultur wird auch getragen von einer riesengroßen Landbevölkerung in vielen der großen Länder der arabischen Welt. Da spielt das religiöse Zugehörigkeitsgefühl die große Rolle, und ein Extremismus, der auch wiederum ökonomische Gründe hat. Denn die Leute sind nicht gebildet, können ihren Hunger gar nicht stillen."

Ein solch vieldeutiger "Hunger" ist es auch, der für den Titel der CD verantwortlich ist. Er meint den Hunger nach Wissen genau wie den Hunger nach Essen, und schließlich auch den Hunger nach Musik, nach Bühnen- und Studiosituation, der bei seinen engsten Mitstreitern auch nach zwanzig Jahren immer noch da ist.

Sein Geheimnis: Mit dem Akkordeonisten Luciano Biondini, Tubist Michel Godard und Schlagwerker Jarod Cagwin hat er damals Leute um sich geschart, bei denen von Anfang an das Miteinander im Fokus stand, nicht, ob sie nun die Besten ihres Faches als Solisten sind. Und so kommt er dieses Mal auch wieder ganz ohne Gast aus, wenn man mal von dem nicht ganz so regelmäßigen, aber doch auch schon long time companion, Saxspieler und Vokalkünstler Gavino Murgia aus Sardinien absieht.

Miles Davis als großes Vorbild

Abou-Khalil, der Wert darauf legt, dass er niemals Oud-Platten macht und Miles Davis als großes Vorbild für kohärenten Bandklang zitiert, hat es zudem geschafft, sein erstes Werk fürs französische Label World Village stringenter, gestraffter klingen zu lassen. Die Stücke sind kürzer, das Kompositorische steht über den Improvisationsstrecken. Vielleicht ein Weiterwirken von "Åm Português", wo sich ja alles um das Liedhafte drehte?

Von links nach rechts: Jarod Cagwin, Michel Godard, Rabih Abou-Khalil, Gavion Murgia, Luciano Biondini; Foto: Levinson Concerts
Vereint durch den "Hunger nach Musik": Abou-Khalil und seine engsten Mitstreiter. Von links nach rechts: Jarod Cagwin, Michel Godard, Rabih About-Khalil, Gavino Murgia, Luciano Biondini

​​"Als ich ganz jung war, habe ich meinem wichtigsten Oud-Lehrer, Wadih Al-Safi meine frühen Kompositionen vorgespielt und er rief: 'Halt, halt, was soll der Blödsinn, ich kann das ja alles gar nicht singen!' Und seitdem sage ich mir immer, wenn es nicht singbar ist, dann bleibt es nicht hängen. Möglicherweise nicht für jedermann singbar, aber es muss einen Sinn ergeben, einen wörtlichen Sinn. Mein Vater war Dichter, und deshalb habe ich eine enge Beziehung zur Literatur. Es ist mir bewusst, dass es einen gewissen Reim, ein Gleichgewicht in der Komposition geben muss von Sprache und Musik, auch wenn es nur eine apostrophierte Sprache ist."

Auf "Hungry People" hat er diese Balance umgesetzt wie vielleicht nie zuvor. Sie kommt wunderbar zur Geltung in einem geradezu kantablen Intermezzo wie "A Better Tomorrow", fast schon ein "gesungenes Gebet" für ein besseres Morgen im Nahen Osten, aber auch in den vielen Stücken, die seinem elaborierten Oriental Jazz zuneigen, und die – wie auf allen seinen Alben – auch humoreske Charakterzüge aufweisen.

Plastikhühnchen zum Latingroove

Wie etwa "Bankers' Banquet", in dem Godard und Murgia den grotesken Tanz all jener anführen, die den Armen alles wegfressen, seien es nun die westlichen Finanzhaie oder die arabischen Herrscherclans. Zum Thema des "großen Fressens" hat er noch andere, ganz persönliche Facetten gefunden, etwa "Fish And Chips And Mushy Peas". Inspiriert hat ihn dazu die englische Fast Food-Spezialität, die ihm in London noch während eines Konzerts an den Fingern klebte.

Das "Shrilling Chicken" dagegen ist keine Widmung an ein Fastfood-Hähnchen, sondern ist einem Plastikhuhn gewidmet, das seine Schwester ihm mal geschenkt hat – für den feinen Latingroove bietet es einen krächzenden Auftakt.

Cover on Abou-Khalils neuem Album Hungry People
Wider den Ernst des Lebens: "Mit Ironie kann man die Welt besser verstehen", meint Abou-Khalil, und bezieht dies auch auf seine Musik.

​​"Musik darf nie zu ernst sein", sagt Abou-Khalil. "Dann verliert sie ihren Charme, genau wie ein Mensch, der immer ernst ist, totlangweilig wirkt. Mit Ironie kann man die Welt besser verstehen, vielleicht sogar mit Surrealismus. Gerade im Nahen Osten scheint mir oft alles ausgesprochen surrealistisch und gegensätzlich. Meine Kompositionen tragen daher oftmals eher surrealistische Namen, damit die Hörer mehr hineinfantasieren können, ich mag keine tiefgründigen Titelgebungen. Warum schreibt man Instrumentalstücke? Weil man das, was man spürt, nicht genau in Worte fassen kann. Und dann soll man am Ende wieder einen Titel dafür finden!"

Fragiler Zedernstaat

Nur bei einem Stück auf "Hungry People" lässt die Benennung keinen Zweifel aufkommen. "Dreams Of A Dying City" thront als dunkle Reflektion im Zentrum der Platte, die bereits vierte Version, die Rabih Abou-Khalil von dieser für ihn leitmotivischen Komposition aufgenommen hat.

Ursprünglich war es auf Beirut gemünzt, doch seitdem haben viele Städte im Nahen Osten angefangen zu brennen, wovon auch der ursprüngliche Adressat nicht unberührt bleibt.

"Ich glaube, das Problem des Libanon ist, dass sich alles, was jenseits seiner Grenzen passiert, doch auf ihn auswirkt. Sei es, dass die Leute für oder gegen Assad sind, pro- oder anti-iranisch. Alles, was sich in der Region abspielt, spiegelt sich im Libanon wider. Gesellschaftlich ist er nach wie vor ein freies Land, man kann machen, was man will. Aber ich fürchte, dass die kleinen Länder wie er nicht von den Geschehnissen um sie herum verschont bleiben. 'Dreams Of A Dying City' werden wir wohl noch oft spielen müssen."

Stefan Franzen

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de