Prozess um Terror bei «Charlie Hebdo» reißt Wunden wieder auf

Frankreich wird weiter vom islamistischen Terror bedroht – angesichts der Corona-Epidemie wird aber weniger darüber gesprochen. Ein großer Prozess in Paris weckt nun Erinnerungen an schlimme Zeiten. Von Christian Böhmer und Pol O'Gradaigh

Vermummte Polizisten, Angeklagte in Handschellen, ein riesiges Gerichtsgebäude im Belagerungszustand: Gut fünfeinhalb Jahre nach dem islamistischen Terroranschlag auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» wird in Paris 14 Angeklagten der Prozess gemacht. Die schrecklichen Ereignisse - es handelte sich um eine mehrtägige Terrorserie - werden nun über Wochen hinweg in einem Gerichtssaal mit schneeweißen Bänken in allem Einzelheiten behandelt. Und auf einmal werden die Angst, die Panik und das ungläubige Entsetzen der grauen Wintertage vom Januar 2015 wieder lebendig. 17 unschuldige Menschen starben, die drei Täter wurden von der Polizei erschossen.

Die Opfer haben Namen, Zeitungen drucken wieder ihre Porträtfotos. Der bekannte Zeichner Georges Wolinski starb bei dem Terrorangriff auf «Charlie Hebdo» im Osten der Hauptstadt. Seine Witwe Maryse sagte nun mit Blick auf das Gerichtsverfahren: «Ich habe darauf gewartet, nun fürchte ich es.» Der Prozess, der sich bis Mitte November hinziehen wird, sehe sie nun als eine Bewährungsprobe, vertraute sie der Informationsplattform Franceinfo an.

Sigolène Vinson überlebte die Attacke auf «Charlie Hebdo». «Man tötet keine Frauen», habe ihr der Täter Chérif Kouachi inmitten des Blutbades zugerufen, erzählte die heute 45-Jährige der Tageszeitung «Le Parisien». Zuvor habe sie sich darauf eingestellt zu sterben: «Da haben wir es, jetzt bin ich dran.» Nach dem Terroranschlag änderte sie ihr Leben, zog in den Süden des Landes. In einer Woche wird sie mit anderen im Verhandlungssaal in der zweiten Etage des Justizpalastes als Zeugin aussagen.

Der Prozess: Eine Antwort des Rechtsstaats und der Demokratie auf die blinde Gewalt, so ist es immer wieder in Kommentaren zu lesen. Die Dimensionen des Verfahrens sind gewaltig: Es gibt 200 Nebenkläger, 94 Anwälte, 144 Zeugen. Doch es sind nicht alle zufrieden. Vom «Prozess der Abwesenden» ist die Rede. Die drei Täter mit islamistischen Hintergrund können nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Zudem sind drei Angeklagte, gegen die schwere Vorwürfe erhoben werden, «ohne gültige Entschuldigung abwesend», wie der Vorsitzende Richter Régis de Jorna am Mittwoch trocken feststellte.

Unter ihnen ist Hayat Boumeddiene, die sich in Syrien aufhalten soll. Die 32-Jährige war laut Medien damals Lebensgefährtin von Amédy Coulibaly. Er erschoss am Tag nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» eine Polizistin im Süden von Paris und tötete am Tag darauf vier Geiseln in einem koscheren Supermarkt, bevor er selbst bei der Erstürmung des Gebäudes erschossen wurde.

Den Angeklagten von Paris wird vorgeworfen, in unterschiedlicher Weise bei der Vorbereitung der Anschläge geholfen sowie einer terroristischen Vereinigung angehört zu haben. Die elf Beschuldigten, die vor Gericht erschienen, hätten bisher gar nichts mit der Anti-Terror-Justiz zu tun gehabt, resümiert «Le Parisien».

Werden also nur «Zuarbeiter» in Paris vor Gericht gestellt und dann möglicherweise verurteilt? Anti-Terror-Chefermittler Jean-François Ricard wehrt sich gegen sich diesen Eindruck: «Der Anwesenheit von direkten Tätern in den Anklageboxen wird zu viel Gewicht eingeräumt», meinte der hohe Beamte bei Franceinfo.

Frankreich wird noch immer vom islamistischen Terror bedroht. Bei Anschlägen starben in den vergangenen Jahren über 250 unschuldige Menschen. Zufall oder nicht: Pünktlich zum Prozessauftakt reiste Staatschef Emmanuel Macron in den Irak. Der Besuch wurde nur Stunden zuvor angekündigt. In dem krisengeschüttelten Land kämpfen auch französische Soldaten gegen Dschihadisten.

Schon am Dienstag hatte der 42-Jährige in Beirut die Freiheit in Frankreich zur Gotteslästerung verteidigt. «Mir steht es nicht zu, die Wahl von Journalisten zu beurteilen.» Der mächtigste Franzose reagierte damit auf die Entscheidung von «Charlie Hebdo», anlässlich des Prozesses bereits früher veröffentlichte Mohammed-Karikaturen auf das Titelblatt seiner neuen Ausgabe zu heben. Mohammed-Karikaturen galten als Hintergrund der verheerenden Attacke auf die Redaktion von «Charlie Hebdo», deren Wunden immer noch tief sitzen. (dpa)