Planlos in die Zukunft

Es herrscht politische Ratlosigkeit in Ägypten. Sowohl Präsident Muhammed Mursi und seine Muslimbrüder, als auch die liberale Opposition haben derzeit kein Konzept, wie sie das Land am Nil aus der Krise führen können. Eine Analyse von Karim El-Gawhary

Von Karim El-Gawhary

Tagelang toben nun schon die Straßenschlachten im ganzen Land infolge des zweiten Jahrestages der Revolution. Auch am Sonntag (27.1.) verwandelten sich die Seitenstraßen rund um den Tahrir-Platz in ein Schlachtfeld zwischen Polizei und Demonstranten.

Das Ganze wurde noch überschattet von den blutigen Reaktionen in der Hafenstadt Port Said auf die Todesurteile gegen 21 lokale Fußballfans, die für die blutigen Krawalle verantwortlich gemacht werden, bei der vor einem Jahr 74 Menschen im Stadium von Port Said ums Leben gekommen waren – fast ausschließlich Fans der gegnerischen Kairoer Besuchermannschaft Al-Ahli.

Es gibt viele Fronten im Land, die das Land polarisieren. Die Ahli-Fans feiern frenetisch die "gerechten" Todesurteile, während in Port Said nach dem Urteilspruch Verzweiflung ausbricht und Angehörige der Verurteilten zum Teil mit Schnellfeuergewehren das örtliche Gefängnis stürmen, in dem viele der Verurteilten einsitzen.

Anhänger des Fußballclubs Al-Ahly nach Verkündung des Gerichtsurteils in Kairo; Foto: Mohammed Abed/AFP/Getty Images
Freudenfeuer nach Bekanntwerden des Urteils: Die Fans des Fußballclubs Al-Ahli und Angehörige der Opfer zeigten sich erleichtert, nachdem Ägyptens Justiz im Prozess wegen der tödlichen Fußballkrawalle von Port Said im vergangenen Februar 21 Angeklagte zum Tode verurteilt hatte.

​​Bei dem Feuergefecht und den anschließenden Straßenschlachten kamen dann mindestens 36 Menschen ums Leben. Bei deren Beerdigungen gingen am vergangenen Sonntag die Auseinandersetzungen in Port Said weiter. Gleichzeitig gab es beim Sturm von Regierungsgebäuden und Büros der Muslimbruderschaft in den letzten Tagen mindestens elf weitere Tote.

Dialog ohne Plan und Ziel

Und was macht der Präsident? Er schweigt und setzt sich mit seinem nationalen Verteidigungsrat zusammen, einem von der neuen Verfassung geschaffenen Gremium aus Ministern und Armeeoffizieren. Der rief anschließend in einer kryptischen Erklärung alle politischen Strömungen zu einem Dialog ohne jegliche Tagesordnung und Ziel auf. Am Montag (28.1.) wurde der Ausnahmezustand für die ägyptischen Städte Port Said, Suez und Ismaelia verkündet.

Und was macht die Opposition? Die "Nationale Rettungsfront", angeführt von Mohammed ElBaradei, dem ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, dem arabischen Nationalisten Hamdeen Sabahi und dem ehemaligen Chef der Arabischen Liga Amr Moussa, gab am Wochenende eine Pressekonferenz, in der sie bestimmte Forderungen stellte: Eine "Regierung der Nationalen Rettung" sollte gegründet und die Verfassung umgeschrieben werden, ansonsten gingen die Proteste weiter.

Auf der Pressekonferenz ging die Opposition sogar soweit, die kommenden Parlamentswahlen boykottieren zu wollen, falls ihren Forderungen nicht entsprochen werde. Nach dem Motto: "Lieber Mursi, gib' uns, was wir wollen, sonst treten wir bei den Parlamentswahlen nicht gegen deine Muslimbrüder an!" Der klassische Schuss ins eigene Bein also.

Weder Mursi, noch die Opposition haben derzeit irgendeine Idee, wie es mit Ägypten und den sich verschärfenden politischen und ökonomischen Problemen weitergehen soll. Das Credo Mursis und der Muslimbrüder lautet bereits seit Monaten: "Alles wird besser, wenn Ihr uns nur mehr Zeit gebt!"

Der Staat im Staate

Mann in Kairo malt Graffiti der Muslimburderschaft; Foto: Reuters
Schreckgespenst Muslimbruderschaft: Das aus linken, liberalen und nationalistischen Kräften bestehende Bündnis wirft Präsident Mohammed Mursi vor, die Macht im Staat zu ursurpieren und eine neue Diktatur im religiösen Gewand zu etablieren.

​​Doch konkrete Vorschläge, wie es letztlich besser werden soll, gibt es keine. Das Erbe Mubaraks, den ineffektiven und korrupten Staatsapparat, hat Mursi bisher nicht angetastet. Und das Innenministerium, das immer noch an alten Polizeipraktiken aus der Diktatur festhält, mit all seiner Arroganz und Immunität, bleibt ein Staat im Staate, der jenseits von Muslimbrüdern und Opposition seine eigenen Überlebensrechnungen anstellt.

Die neun toten Demonstranten am Wochenende in Suez, wurden laut Gerichtsmedizinern, aus kurzer Distanz erschossen, manche sogar in den Rücken. Der Sicherheitsapparat musste sich dafür bisher nicht rechtfertigen.

Das Credo der Opposition ist mindestens genauso simpel: "Alles nur nicht die Muslimbrüder". Bei den Straßenschlachten der letzten Tage hallte immer wieder der Ruf: "Stürzt das Regime, stürzt Mursi!"

Der Fluch der ägyptischen Mumie

Abgesehen davon, dass es etwas an der demokratischen Glaubwürdigkeit nagt, wenn man einen gewählten Präsidenten stürzen will, weil man ihn und seine Muslimbrüder an den Wahlurnen nicht schlagen konnte, stellt sich die Frage: und was dann?

Diese Frage zu beantworten, scheint derzeit in der Opposition niemand in der Lage zu sein. Keiner kann derzeit in Ägypten mit einer Vision aufzuwarten, die die wirklichen Probleme der Menschen anspricht: die darniederliegende Wirtschaft, die Preiserhöhungen bei konstant niedrigen Löhnen oder die dringend benötigten Arbeitsplätze, abgesehen von der überfälligen Reform des Staatsapparates.

Oder wie es der Tahrir-Aktivist Wael Khalil formulierte: "Das ist wohl der Fluch der ägyptischen Mumie. Weder die Muslimbrüder, noch die Opposition haben ihre politischen Hausaufgaben gemacht."

Karim El-Gawhary

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de