Politologin Ferman: Türkei aktuell größte Bedrohung für Jesiden

Berlin. Acht Jahre nach den Gräueltaten der Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) an den Jesiden im Nordirak muss die Gemeinschaft nach Angaben der Menschenrechtsaktivistin Leyla Ferman eine Bedrohung von anderer Seite fürchten. epd-Gespräch: Mey Dudin



«Aktuell stellt die Türkei das größte Sicherheitsrisiko dar», sagte die Vorsitzende der Jesidinnen-Organisation «Women for Justice» (Frauen für Gerechtigkeit) im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Immer wieder fliege das türkische Militär seit 2017 Luftangriffe auf die Sindschar-Region und zerstöre dabei regelmäßig auch zivile Einrichtungen und töte Menschen. «Die Angriffe sprechen eine klare Sprache», betonte sie. «Sie zeigen, dass die Türkei den Jesiden zur Last legt, den Völkermord überlebt zu haben.»



Am 3. August 2014 hatten IS-Kämpfer die jesidischen Dörfer in der Sindschar-Region (kurdisch: Shingal) überfallen, Tausende Männer getötet und Frauen und Kinder verschleppt, unter anderem nach Syrien. Frauen und Mädchen wurden systematisch vergewaltigt. Zehntausenden Menschen gelang die Flucht in die Berge. Dort wurden sie aber von dschihadistischen Kämpfen umzingelt und belagert, bis es kurdischen Milizen gelang, einen Fluchtkorridor freizukämpfen und sie in Sicherheit zu bringen.



Ferman sagte, jüngst sei ein Jeside wegen eines Fotos aus dieser Zeit in der Türkei festgenommen worden. Die Behörden hätten die Festnahme damit begründet, dass der Mann auf dem Bild neben PKK-Kämpfern zu sehen sei. Dabei habe es sich um jene Kämpfer gehandelt, die den Mann damals durch den Fluchtkorridor gebracht hätten. «Das Foto ging an die Presse und ihm wurde unterstellt, PKK-Mitglied zu sein.» Die promovierte Politikwissenschaftlerin betonte: «Auch dieser Fall zeigt: Die Schuld dieses Mannes besteht aus Sicht der Türkei allein darin, überlebt zu haben.»



Ein weiteres Sicherheitsrisiko für die Jesiden sei derzeit das sogenannte Erbil-Bagdad-Abkommen, das die kurdische Autonomieregion im Nordirak mit der irakischen Zentralregierung vereinbart habe. «Jesidische Milizen sollen durch irakische Sicherheitskräfte ersetzt werden. Deshalb knallt es natürlich.» Ferman erinnerte daran, dass sich die irakischen und kurdischen Sicherheitskräfte vor dem IS-Überfall zurückgezogen und die Jesiden ihrem Schicksal überlassen hätten. «Wenn also das Abkommen umgesetzt wird, gibt es keinen Unterschied mehr zu der Zeit vor 2014, als andere für den Schutz der Jesiden zuständig waren. Das kann nach einem Genozid an der jesidischen Gemeinschaft nicht verlangt werden.»



Die Sindschar-Region sei für die religiöse Minderheit - auch für die Geflüchteten - nach wie vor der Dreh- und Angelpunkt. «Shingal bleibt auf jeden Fall die Heimat: Weil viele da Familie haben, die Verstorbenen da beerdigt und weil die Pilgerstätten dort sind.» (epd)