Parlamentswahl: Türkei stellt die Weichen für oder gegen Erdogan

Die Türkei steht vor einer Richtungsentscheidung. Bei der Parlamentswahl am 7. Juni entscheiden die rund 57 Millionen Wähler nicht nur über die neue Zusammensetzung der Volksvertretung in Ankara und eine neue Regierung. Sie stellen auch die Weichen für oder gegen ihren Staatschef Recep Tayyip Erdogan, der aus der türkischen parlamentarischen Demokratie ein Präsidialsystem machen will. Laut Umfragen ist es unsicher, ob Erdogan sein Ziel erreichen kann.

Bei der Wahl bewirbt sich die von Erdogan gegründete islamisch-konservative Partei AKP um ein neues Regierungsmandat. Die seit 2002 regierende AKP ist die stärkste politische Kraft im Land und dürfte das auch bleiben. Umfragen sehen die AKP bei 40 bis 45 Prozent, weit vor der säkularistischen CHP, die bei 25 Prozent liegt, und der Nationalistenpartei MHP, die auf 15 bis 18 Prozent kommt. Die Kurdenpartei HDP muss um den Einzug ins Parlament bangen; einige Umfragen gehen allerdings davon aus, dass die HDP die in der Türkei geltende Zehnprozent-Hürde überwinden wird.

Doch Erdogan und der AKP geht es nicht so sehr um den Sieg, der ohnehin fest steht. Erdogan will nach der Wahl mit Hilfe des neuen Parlaments eine Reihe von Verfassungsänderungen durchsetzen, um in der Türkei das Präsidialsystem einzuführen. Dafür benötigt er mindestens eine Drei-Fünftel-Mehrheit der 550 Mandate, also 330 - aber ob er die erreicht, ist fraglich.

Bei der Parlamentswahl geht es im Grunde um die künftige politische Rolle Erdogans - und das macht den Wahlkampf so besonders. Der eigentlich zur Neutralität verpflichtete Staatspräsident mischt ganz offen im Wahlkampf für die AKP mit, was ihm viel Kritik der Opposition einbringt.

In der Türkei gilt Erdogan als der bei weitem beste Wahlkämpfer, der mit seinem rhetorischen Talent, seinem Populismus und seiner Volksverbundenheit punkten kann. Dennoch verliert die AKP in den Umfragen seit Wochen an Boden. Die Gründe liegen in der sich eintrübenden Wirtschaftlage, der steigenden Arbeitslosigkeit, den Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung - und in einem neuen Kampfgeist bei der Opposition. Insbesondere die rechtsgerichtete MHP und die Kurdenpartei HDP sind im Aufwind.

Der kleinen HDP könnte bei der Wahl eine Schlüsselrolle zukommen. Schafft sie den Sprung ins Parlament, stellt sie mindestens 60 Abgeordnete und macht es für die AKP sehr schwierig, ihr Wahlziel von mindestens 330 Abgeordneten zu erreichen. Bleibt die HDP draußen, profitiert vor allem die AKP.

Folgerichtig attackiert Erdogan bei seinen Reden die Kurdenpartei ganz besonders heftig. Gleichzeitig zeigen Umfragen aber auch einen Trend von nicht-kurdischen Erdogan-Gegnern in der Wählerschaft hin zur HDP: Sie wollen mit einer Stärkung der Kurdenpartei die Präsidialpläne Erdogans verhindern.

Wegen der Schwächung der AKP sehen einige Beobachter sogar die Mehrheit der Partei im neuen Parlament bedroht. Zum ersten Mal seit 2002 könnte es in der Türkei wieder eine Koalitionsregierung aus mehreren Parteien geben. Offiziell gibt sich die AKP zwar gelassen, doch hin und wieder lassen Äußerungen von Spitzenpolitikern erkennen, wie besorgt die Regierungspartei ist. So warnte Finanzminister Mehmet Simsek die Wähler kürzlich, eine Koalitionsregierung könnte der Türkei den wirtschaftlichen Kollaps bescheren.

Auf jeden Fall müssen Erdogan und die AKP der Möglichkeit ins Auge sehen, dass die sieggewohnte Regierungspartei erstmals seit ihrer Gründung keine Wählerstimmen hinzugewinnt, sondern Verluste erleidet. Die Opposition erkennt Zeichen der Verunsicherung beim mächtigen Staatschef. Erdogan habe sich wegen der sinkenden Umfragewerte für die AKP aus lauter Panik in den Wahlkampf gestürzt, sagte der CHP-Vizechef Haluk Koc. "Er hat Angst." (AFP)