Nach schlimmsten Unruhen seit Sidi Bouzid: Tunesien verhängt landesweite Ausgangssperre

Nach tagelangen Unruhen in Tunesien hat die tunesische Regierung eine landesweite nächtliche Ausgangssperre ausgerufen. Sie trete mit sofortiger Wirkung in Kraft, erklärte das Innenministerium am Freitag(22.12.2016). Zuvor war es in mehreren Teilen des nordafrikanischen Landes erneut zu Protesten gegen die Arbeitslosigkeit gekommen. In der Hauptstadt Tunis blockierten Demonstranten eine Hauptstraße und setzten Reifen in Brand.

Am Donnerstag hatten sich Hunderte Menschen Straßenschlachten mit der Polizei geliefert. Die Arbeitslosenquote in Tunesien beträgt etwa 15 Prozent. Die jüngsten Demonstrationen begannen am Dienstag, nachdem ein Arbeitssuchender in Kasserine Selbstmord begangen hatte. Die Stadt war einer der Orte, an denen es 2011 zu ersten Protesten gegen die Regierung des später gestürzten Machthabers Zine el-Abidine Ben Ali kam. Die Aufstände breiteten sich auf andere Länder in der Region aus.

In Tunesien ist eine Stelle im öffentlichen Dienst einer der wenigen Wege, an einen Arbeitsplatz zu kommen. Die Arbeitslosenquote in Tunesien liegt bei mehr als 15 Prozent, bei Akademikern sogar bei 32 Prozent. Die französische Le Monde zitiert einen jungen Tunesier, der sagte, man müsse bis zu 1.500 Euro bezahlen, um in Tunesien einen Job bekommen zu können.

Ein Sprecher des Innenministeriums warf Kriminellen vor, die friedlichen Proteste gegen die Regierung zu missbrauchen. In den vergangenen 24 Stunden wurden nach seinen Angaben landesweit 42 Mitglieder der Sicherheitskräfte verletzt. Am Mittwochabend war ein junger Beamter mit seinem Auto tödlich verunglückt, als er Demonstranten in Feriana im Zentrum des Landes auseinandertreiben wollte.

Die Bundesregierung zeigte sich alarmiert und rief insbesondere die tunesischen Sicherheitskräfte zur Besonnenheit auf. Die Bundesregierung betrachte die gewaltsamen Zusammenstöße mit "großer Sorge", sagte eine Sprecherin in Berlin. Viele Jugendliche in vernachlässigten Regionen von Tunesien hätten "keine echte Perspektive". Ihre große Unzufriedenheit sei daher verständlich, und friedliche Demonstrationen seien ihr gutes Recht. Die Sprecherin rief die tunesische Regierung auf, ihre Reformen fortzusetzen.

Seit der Revolution von 2011, die den langjährigen Staatschef Zine El Abidine Ben Ali zu Fall brachte, gibt es in Tunesien immer wieder Proteste gegen die prekäre Lage, die bereits häufiger in Gewalt umschlugen. Die Revolution hatte im Dezember 2010 mit Protesten in Sidi Bouzid in der Nähe von Kasserine begonnen, nachdem sich ein Obstverkäufer aus Verzweiflung über Schikane durch die Behörden selbst verbrannt hatte. (AFP, DPA, Reuters)

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