Nach Angriff im Herzen Istanbuls erbitterter Streit in der Türkei

Nach dem Ende der Geiselnahme begann der Streit. Der Istanbuler Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz, der am Dienstag in die Gewalt bewaffneter Linksextremisten geriet und tödlich verletzt wurde, war noch keine 24 Stunden tot, da brach am Mittwoch zwischen Anhängern von Regierung und Opposition in der Türkei bereits eine erbitterte Auseinandersetzung über die Verantwortung für das Verbrechen aus. Bis zur Parlamentswahl am 7. Juni dürften die politischen Spannungen noch weiter eskalieren.

Staatschef Recep Tayyip Erdogan, der trotz einer Pflicht zur Überparteilichkeit im höchsten Staatsamt weiter klar auf der Seite seiner Regierungspartei AKP steht, brach wegen der Gewalt in Istanbul einen Besuch in Rumänien ab und kündigte seine vorzeitige Heimreise an. Im selben Atemzug schimpfte Erdogan bereits auf die Opposition und einen Teil der türkischen Medien, die seiner Meinung nach bei der Geiselnahme eine "nationale Haltung" vermissen ließen. Auch Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sprach von einer "Unmoral" der Medien, womit er vor allem die regierungskritischen Zeitungen und Fernsehsender meinte.

Devlet Bahceli, Chef der Rechtsnationalisten, ärgerte die Regierung mit der Frage, warum der angeblich so professionelle türkische Geheimdienst MIT nichts von der Vorbereitung der Geiselnahme erfahren hatte. Opositionsführer Kemal Kilicdaroglu zog ebenfalls den Zorn Erdogans auf sich, indem er von möglichen Sicherheitsmängeln im Gerichtsgebäude im Istanbuler Stadtteil Caglayan sprach.

Dort war Staatsanwalt Kiraz am Dienstag von zwei Mitgliedern der verbotenen linksradikalen Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) überfallen worden, die sich mit gefälschten Anwalts-Ausweisen Zutritt verschafft hatten.

Staatsanwalt Kiraz ermittelte wegen des Tods von Berkin Elvan. Der 14-jährige Junge war im Jahr 2013 während der Gezi-Unruhen in Istanbul von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen worden und nach monatelangem Koma im März 2014 gestorben.

Kiraz' Geiselnehmer forderten, die Behörden sollten die Namen jener Polizisten veröffentlichen, die als Verantwortliche für den Tod von Berkin Elvan in Frage kommen. Nach rund achtstündigen Verhandlungen zwischen Tätern und Behörden stürmte die Polizei das Büro und erschoss die beiden Geiselnehmer. Kiraz wurde schwer verletzt und starb wenig später.

Nun will die Regierung den Istanbuler Justizpalast, den Schauplatz der Geiselnahme, nach dem getöteten Staatsanwalt nennen. Unangenehme Fragen werden weniger gerne gesehen. So will Ömer Faruk Eminaoglu, Chef einer regierungskritisischen Juristenvereinigung, von der Regierung wissen, ob nach der Geiselbefreiung mit tödlichem Ausgang nun Ermittlungen gegen die beteiligten Polizisten eingeleitet werden. Vor allem müsse geklärt werden, ob der Schusswaffeneinsatz angemessen gewesen sei. Es ist kaum zu erwarten, dass die Regierung darauf eingehen wird.

Erst vor wenigen Tagen hatte die Davutoglu-Regierung mit dem Segen Erdogans ein neues Sicherheitsgesetz durchs Parlament gebracht, das der Polizei mehr Befugnisse einräumt und unter anderem auch den Einsatz von Schusswaffen erleichtert. Die Opposition beklagt, damit werde der Marsch in den Polizeistaat vorbereitet. Auch dieser Streit dürfte sich nach der Geiselnahme von Istanbul verschärfen.

Rund zwei Monate vor der Wahl, die von Erdogan zur Abstimmung über das von ihm gewollte Präsidialsystem erklärt worden ist, ist ohnehin ein heftiger politischer Schlagabtausch zu erwarten, bei dem nur wenig Raum für Kompromisse und sachliche Debatten über Sicherheitsfragen bleibt.

Nun ist dieser Raum noch enger geworden, der Tod des Staatsanwalts wurde sofort zu einem Thema im anlaufenden Wahlkampf. Davutoglu sprach von einer "Allianz des Bösen", die das Land vor dem Wahltag ins Chaos stürzen wolle. (AFP)