Lesbos - eine Insel jenseits jeglicher Normalität

Kaum mehr Insulaner auf den Straßen von Lesbos, dafür fast jede Nacht neue Boote mit Migranten und Flüchtlingen an Bord, die mittlerweile auch im Hafen der Hauptstadt nächtigen. Hoffnung auf eine Lösung gibt es für die Insel nicht.

Wer noch vor kurzer Zeit auf Lesbos und in der Inselhauptstadt Mytilini war, erkennt das Eiland heute nicht wieder. Auf der Straße wird arabisch, Urdu, Farsi und Paschtu gesprochen. Migranten aus allen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und Afrikas bevölkern den Hafen und die Stadt Mytilini.

«Schert euch zum Teufel», murmelt ein älterer Einheimischer, der auf der zentralen Shoppingmeile Ermou seine Einkäufe macht. Er ist einer von wenigen Inselgriechen, die noch auf der Straße unterwegs sind.

An den Geldautomaten lange Warteschlangen: Nach Auszahlung der Renten holen die älteren Bürger ihr Geld - wie auch die Asylsuchenden, die eine kleine finanzielle Unterstützung erhalten. «Es gibt nicht genügend Geldautomaten. Aber das ist nicht das Einzige. Die ganze Infrastruktur bricht zusammen», sag Irene, Angestellte in einem Hotel in Mytilini.

Überfüllt ist auch das kleine Krankenhaus der Insel. Es wurde einst für nicht mehr als 30.000 Einwohner gebaut. Jetzt müssen die Ärzte zusätzlich 20.000 Flüchtlinge versorgen. Migranten und Einheimische stehen gleichermaßen Schlange. Nicht erst seit der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus haben die Inselbewohner Angst vor Epidemien. Längst sorgen sie sich wegen des Drecks und der Gesundheitsgefahren, die von den unzähligen unorganisierten, überfüllten Flüchtlingslagern auf ihrer Insel ausgehen.

Angst haben aber auch die Migranten und Flüchtlinge. Hamid Reza, ein 29-jähriger Afghane, zeigt auf seine Frau und seine kleine Tochter, die er zum Hafen der Inselhauptstadt gebracht hat. «Ich habe Angst, im Lager zu leben. Ich sorge mich um meine Frau und meine Familie», sagt er. Dort, im berüchtigten Lager von Moria, herrsche Gesetzlosigkeit. Deshalb verbringe er den Tag am Hafen.

Das Lager von Moria ist inzwischen eine kleine Stadt geworden. Überall stehen Hütten und Zelte. Der Geruch von Urin breitet sich aus. Kinder spielen in schmutzigen Rinnsalen. «Hier ist es schlimm. Ich bin seit sieben Monaten hier und warte auf die Bearbeitung meines Asylantrags», sagt ein junger Somalier. Er lebt mit sieben weiteren Landsleuten in einer aus Plastikplanen und Pappkarton gebauten Hütte, die nicht mehr als dreimal drei Meter groß ist.

Auch am Hafen von Mytilini leben mittlerweile Flüchtlinge. Sie sind den Einheimischen ein Dorn im Auge. Aber wer hat Recht? Eigentlich beide Seiten, sagt ein Hafenpolizist, der seinen Namen nicht nennen will. Die Migranten wollten weg, die Einheimischen wollten, dass sie weggehen, also gebe es doch eine gemeinsame Meinung: «Sie müssen weg.»

Vor einigen Tagen waren Vermummte auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Journalisten losgegangen. In griechischen Medien war von Rechtsradikalen die Rede. Berichte über Vorfälle dieser Art auf Lesbos gab es seither aber nicht mehr.

Der 2016 geschlossene Pakt zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass alle Migranten, die kein Asyl in Griechenland bekommen, zurück in die Türkei geschickt werden. Das Problem: Den Griechen gelingt es nicht, die vielen Asylanträge und -verfahren zügig abzuschließen. Manche Verfahren dauerten mehr als zwei Jahre. Ergebnis: Heillos überfüllte Camps.

Zum Jahresbeginn hatte die konservative Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis das Asylrecht verschärft und beschleunigt. Innerhalb von sechs Monaten solle jeder spätestens wissen, ob er bleiben könne oder nicht. Doch während die griechische Regierung noch mit der Umsetzung der neuen Maßnahmen beschäftigt war, kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am vergangenen Wochenende an, die Grenzen zu öffnen.

Seither kommt es zu Unruhen an der griechisch-türkischen Grenze im Osten des Landes, wo Tausende Migranten versuchen, nach Europa zu gelangen. Auch auf Lesbos macht sich die angespannte Situation zwischen Griechenland und der Türkei bemerkbar, sagt Nikolaos Panagiotopoulos, auf Lesbos für die Hilfsorganisation International Rescue Committee Deutschland (IRC) verantwortlich.

«Wir hatten am Wochenende rund 1.000 Neuankünfte auf den Inseln. Das setzt das bestehende System enorm unter Druck, die Kapazität liegt nur bei 3.000 Menschen, nun sind es auf allen Inseln mehr als 36.000.»

Das Problem könne nicht von Griechenland allein behoben werden, sagt Panagiotopoulos. Der Zeitpunkt sei gekommen, gerade jetzt, wo die EU über eine Reform des europäischen Asylsystems debattiere. Es müsse ein transparentes, faires und menschliches Prozedere etabliert werden. Dazu gehörten auch massive Investitionen in die Infrastruktur vor Ort, darunter Übersetzer, Rechtsanwälte und ein effizientes Informationssystem für die Migranten.

Der griechische Regierungschef Mitsotakis treibt diese Bemühungen voran - wird jedoch nun durch die türkische Flüchtlingspolitik torpediert, ist die Meinung von politischen Analysten in Athen. Längst nimmt die griechische Politik das Vorgehen Erdogans als Invasion mit anderen Mitteln wahr. Die Hoffnung ruht nun - wenn auch nur verhalten - auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie müsse beweisen, dass die EU sich nicht unter Druck setzen lasse, ist die einhellige Meinung. (dpa)