Lehrerausbilder Khorchide zu zehn Jahre Islamunterricht in NRW

Münster. Vor zehn Jahren hat Nordrhein-Westfalen als erstes Bundesland islamischen Religionsunterricht eingeführt. Heute steht das Fach rund 5 Prozent aller muslimischer Schülerinnen und Schüler in NRW zur Verfügung. Eine Kommission mit Vertretenden aus Islamverbänden entscheidet über die Inhalte mit und erteilt Pädagogen auch die religiöse Lehrerlaubnis. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht der Münsteraner Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide über seine Arbeit in der Kommission, das Thema Sexualität im Islamunterricht und über Herausforderungen für angehende Lehrkräfte.



KNA: Professor Khorchide, nach zehn Jahren steht islamischer Religionsunterricht nur einem Bruchteil der muslimischen Schülerinnen und Schüler in NRW zur Verfügung. Woran hakt es?



Khorchide: Es ist ein unglaublicher Aufwand, Religionsunterricht für 450.000 junge Menschen einzuführen. Das geht nicht von heute auf morgen. Ein wichtiger Punkt sind die Lehrkräfte. An der Universität Münster machen etwa 50 Studierende pro Jahr ihren Abschluss und gehen in die Schulen. Wir bräuchten aber geschätzte 800 bis 1.200 Absolvierende. Es wird weitere 15 bis 20 Jahre dauern, bis wir in NRW flächendeckend den islamischen Religionsunterricht haben.



KNA: Gibt es überhaupt genug Studierende, die Islamlehrerin oder -lehrer werden wollen?



Khorchide: Ja, in Münster stoßen wir sogar an unsere Kapazitätsgrenze. Aber nicht alle schaffen das Studium. An der Universität gilt es, sich moderne wissenschaftliche Methoden anzueignen. Also nicht einfach unreflektiert das zu wiederholen, was man in der Moschee und in der Familie gehört hat. Das ist eine Herausforderung für viele Studierende, die oft aus bildungsfernen Familien stammen. Bei manchen kommt es zu einer Identitätskrise.



KNA: Sind die Inhalte in den Moscheen und an der Universität so unterschiedlich?



Khorchide: Der Islam kennt kein offizielles Lehramt wie etwa das katholische Christentum. Stattdessen gibt es eine Bandbreite an Auslegungen. Die Imame sind oft im Ausland ausgebildet und viele Moscheegemeinden pflegen eine Theologie, die nicht immer zur Lebenswirklichkeit in Deutschland passt. An der Uni dagegen verstehen wir zum Beispiel den Koran nicht wortwörtlich, sondern im Kontext seiner Entstehungszeit im 7. Jahrhundert. Wenn es etwa um das Bild der Frau im Koran geht - das können wir nicht eins zu eins ins Heute übertragen. Einige Moscheeverbände meinen, der richtige Islam sei der Islam der Moscheegemeinden, und nicht, was an der Uni gelehrt wird. Und so stehen die jungen Menschen nicht selten zwischen den Stühlen.



KNA: Sind Sie mit den aktuellen Lehrinhalten des Islamunterrichts einverstanden?



Khorchide: Ja, ich wünsche mir aber zusätzliche Themen. Junge Menschen beschäftigen zum Beispiel Fragen nach Diversität und Sexualität. Darüber sollte auch im Religionsunterricht gesprochen werden, ebenso über Klimawandel und Krieg.



KNA: Bleiben wir beim Thema Sexualität. Welche Inhalte könnte der Islamunterricht hier vermitteln?



Khorchide: Einen verantwortungsvollen Umgang mit dem eigenen Körper, dass man sich als selbstbestimmten Menschen wahrnimmt. Der Umgang mit Homosexualität wäre ein anderer Punkt. Hier geht es um die Würdigung von Vielfalt und um Augenhöhe. Menschen, die divers sind, sollten in keiner Weise benachteiligt werden.



KNA: Sind diese Inhalte vereinbar mit dem Islam?



Khorchide: "Den" Islam gibt es nicht. Ich würde mir wünschen, dass solche Schwerpunkte aus der Perspektive eines weltoffenen, aufgeklärten Islam thematisiert werden.



KNA: Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen ein, dass Sie solche Inhalte in der NRW-Kommission für den Islamunterricht durchkriegen, in der eher konservative Islamverbände vertreten sind?



Khorchide: Die Kommission hat vor einem Jahr ihre Arbeit aufgenommen. Man ist noch in einer Anfangsphase, wo man sich zunächst organisieren musste. Im nächsten Schritt sollten solche Themen angesprochen werden. Bis jetzt mache ich durchweg positive Erfahrungen in der Kommission.



KNA: Der umstrittene türkische Moscheeverband Ditib ist wieder Mitglied in der Kommission, nachdem er aus dem Vorgänger-Beirat ausgeschieden war. Bespitzelungsvorwürfe spielten hier eine Rolle. Wie sehen Sie die Wiederaufnahme?



Khorchide: Ich sitze in der Kommission als Sprecher des Bündnisses Marokkanische Gemeinde. Der typische Vorwurf lautet, die Ditib sei vom türkischen Staat gesteuert. Das erlebe ich so nicht. Die größere Herausforderung sehe ich darin, dass wir dringend mehr Vielfalt der Islamauslegungen in der Kommission benötigen, um auch die Mehrheit der Muslime in Deutschland zu repräsentieren. Studien zeigen, dass die meisten Muslime kein Mitglied in den klassischen Moscheegemeinden sind. Dass die neue NRW-Regierung die liberalen Verbände in dem Gremium stärken will, finde ich eine akute Notwendigkeit.



KNA: Wie arbeitet die Kommission bisher?



Khorchide: Die Arbeit läuft bislang reibungslos. Wir haben uns schnell auf die Kriterien für die Vergabe der Lehrerlaubnis geeinigt. Ich bin sehr froh, dass diese flexibel und offen sind. Es erzeugt dennoch einen gewissen Druck auf Studierende, dass die Kommission hauptsächlich aus Verbänden einer bestimmten Richtung im Islam besteht. Sie meinen dann, wenn sie ihre Lehrerlaubnis bekommen wollen, müssen sie eher diese eine Richtung vertreten. In der Kommission müsste jedoch die ganze innerislamische Vielfalt gleichberechtigt repräsentiert sein.



KNA: Sie haben sich mit Ihrem 2019 gegründeten Verein Muslimische Gemeinschaft NRW auch für die Kommission beworben, sind aber abgelehnt worden. Woran lag es?



Khorchide: Dieser Verein hat nicht die benötigte Größe. Wir haben 300 Mitglieder, darunter aber nur zwei Moscheegemeinden. Wir sind bestrebt zu wachsen und hoffen, dass wir und andere Vereinigungen künftig einen Zugang in die Kommission finden, damit ein gewisses Gleichgewicht entsteht. Dass mit dem Bündnis Marokkanische Gemeinde auch eine andere Lesart des Islam vertreten ist, finde ich wichtig. Ich selbst bin übrigens kein Marokkaner.



KNA: Das Gremium ist aus einer verfassungsrechtlichen Übergangslösung entstanden. Braucht es in NRW nicht besser einen Staatsvertrag mit Islamverbänden wie in Hamburg?



Khorchide: Es gibt Ähnlichkeiten. Das NRW-Schulministerium hat Einzelverträge mit allen islamischen Verbänden in der Kommission geschlossen. Darin sind die Rechte und Pflichten von allen Beteiligten garantiert. Darauf kommt es an.



KNA: Wäre ein Staatsvertrag nicht trotzdem die sauberere Lösung?



Khorchide: Jeder Schritt in Richtung Anerkennung der Muslime als Teil der Gesellschaft ist nicht nur willkommen, sondern notwendig. Vielleicht folgt auf die Kommission so etwas wie ein Staatsvertrag oder sogar eine Anerkennung von muslimischen Gemeinden als Körperschaften öffentlichen Rechts wie in Österreich. Ich sehe schon eine Entwicklung hin zu einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen Islam und Staat. (KNA)