Gebrochenes Schweigen

In ihrem Roman "Alle Farben Rot" verbindet die indonesische Schriftstellerin Laksmi Pamuntjak die gesellschaftspolitische Vielschichtigkeit des Inselstaates und seine blutige jüngere Geschichte literarisch überzeugend mit dem Schicksal ihrer Protagonisten. Bettina David hat das Buch gelesen.

Von Bettina David

Im muslimischen Java tragen viele Menschen Namen aus der Götter- und Heldenwelt der hinduistischen Epen Ramayana und Mahabharata, Namen, die auch heute noch für Schönheit und Edelmut, Liebreiz und Weisheit stehen. Eine Amba, so schreibt Laksmi Pamuntjak gleich zu Beginn ihres nun auch auf Deutsch erschienen Romans "Alle Farben Rot", werde man jedoch vergeblich suchen – zu fürchterlich scheint ihr Schicksal im Mahabharata:

Die Königstochter, dem König Salwa verspochen, wird vom gewaltigen Krieger Bhisma entführt. Am Ende wird sie die von beiden Männern Verstoßene sein: Salwa weist sie ab, und Bhisma, an ein Gelübde gebunden, kann ihre Liebe nicht annehmen. Wiedergeboren als amazonengleiche Prinzessin Srikandi wird sie grausam Rache nehmen und den unbezwingbaren Bhisma töten. Mit Bhismas grauenvollem Tod – hunderte Pfeile Srikandis bohren sich in seinen Körper – findet der Bruderkrieg zwischen den Pandawa und Kaurawa aber auch sein Ende. Die verfeindeten Lager sind in Trauer um den großen Bhisma vereint.

Laksmi Pamuntjak hat sich in ihrem groß angelegten Erstling nichts Geringeres vorgenommen, als diese alte Erzählung neu zu schreiben und den Mythos mit der jüngeren indonesischen Geschichte, die nicht minder blutig verlaufen ist, zu verbinden.

Javanischer Synkretismus und gesellschaftliche Spannungen

Ihre Heldin Amba wächst in den 1950er Jahren in einer kleinen Provinzstadt in Mitteljava auf. Die Schilderung ihrer Kindheit lässt eine traditionelle javanische Welt wie aus dem ethnologischen Bilderbuch vor den Augen der Leser lebendig werden: Der Vater ein Lehrer, in seinem Weltverständnis tief durchdrungen vom toleranten islamo-javanischen Synkretismus, ein Liebhaber des Schattenspiels und der in ihm aufgeführten hindu-javanischen Legenden, die Mutter eine ehemalige Sängerin in einem Gamelanorchester. Vor allem sie drängt auf eine baldige Verheiratung Ambas mit dem sympathischen Salwa. Der Vater zeigt mehr Verständnis für den unbändigen Wissenshunger seiner Ältesten, die in Jogjakarta erst einmal Anglistik studieren möchte.

Laksmi Pamuntjaks Roman "Alle Farben Rot"; Foto: DW/H. Pasuhuk
In ihrem im September bei Ullstein erschienenen Roman „Alle Farben Rot“ widmet sich die 43-jährige Laksmi Pamuntjak den Folgen des Traumas von 1965 in einem großen Epos: Eine Frau sucht Jahrzehnte später nach ihrem Geliebten, der 1965 auf die berüchtigte Gefangenen-Insel Buru verschleppt wurde.

Doch schon hier zeigen sich gesellschaftliche Polarisierungen, die sich vertiefen und Mitte der 1960er Jahre in einen der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts führen werden. Ambas Vater, dem die Wahrung der nationalen Einheit über alles wichtig ist, stimmt bei den Wahlen 1955 für Sukarnos Nationalismus, seine Frau sympathisiert mit den Kommunisten. In Salwas Familie sorgen die unüberbrückbaren Unterschiede zwischen islamischem Traditionalismus und Modernismus für Spannungen. Amba wiederum eröffnet sich in der Lyrik von Dichtern wie T.S. Eliot und Sylvia Plath eine ganz neue Welt jenseits der lokalen Lagerbildungen.

Bereits mit Salwa verlobt, verliebt sie sich bei einem kurzen Aufenthalt im ostjavanischen Kediri Hals über Kopf in den erst kürzlich von seinem Studium aus Leipzig zurückgekehrten Arzt Bishma Rashad. Es ist der Sommer 1965, das Land steht vor einem Bürgerkrieg. Sukarnos populistische Rhetorik vom Bündnis zwischen Nationalisten, religiösen Gruppierungen und Kommunisten ("NASAKOM") geht an den sozialen Spannungen auf dem Land in Java vorbei und schweigt zur Rolle der Armee, einem der wichtigsten Machtzentren im Staat.

Während sich die politische Situation zuspitzt und es schließlich am 30. September 1965 im fernen Jakarta zum folgenschweren Putschversuch und der Ermordung von sechs hochrangigen Generälen kommt, erleben Amba und Bhisma eine kurze Zeit leidenschaftlicher Liebe.

Im gewaltsamen Chaos der Oktobertage verlieren sie sich. Amba, die ein neues Leben in ihrem Körper heranwachsen spürt, kann sich retten. Bhisma hingegen wird, da er mit Kommunisten befreundet war, gefangen genommen und unter dem Suharto-Regime Anfang der 1970er Jahre in einem der berüchtigten Lager für politische Gefangene auf der ostindonesischen Insel Buru interniert.

40 Jahre später erfährt Amba vom Tod Bhismas auf Buru. Sie macht sich auf die Suche nach seinen Spuren, um nach Jahrzehnten der quälenden Ungewissheit eine Antwort auf ihre Fragen nach ihm, seiner Liebe zu ihr und dem sie beide verbindenden Schicksal zu finden.

Schreiben gegen das Schweigen

Der Roman, in sieben "Bücher" unterteilt, entfaltet sich im gekonnten Wechsel von Liebes- und Zeitgeschichte, getragen von unterschiedlichen Erzählerstimmen und Zeitsprüngen, lyrischen Einschüben und persönlichen Erinnerungen. Die gesellschaftspolitische Vielschichtigkeit des Inselstaates und seine blutige jüngere Geschichte verbindet Pamuntjak literarisch überzeugend mit dem Schicksal ihrer Protagonisten.

"Buch 4" über Bhismas Verschwinden 1965 besteht aus einem einzigen großen X – der Auslöschung eines Menschen, dem Schweigen über sein Schicksal und der Sprachlosigkeit gegenüber der Gewalt, die das Land erfasst hat, kann man sprachlich kaum gerecht werden. Erst in der Zeit nach Suharto kann die inzwischen über 60-jährige Amba unter anderem anhand von Bhismas nie abgeschickten Briefen aus dem Lager mit der Aufarbeitung ihrer persönlichen Geschichte, die auch die Indonesiens ist, beginnen.

Bis heute sind die Massenmorde von damals, denen über eine halbe Million Menschen zum Opfer fiel, tabuisiert, die Mörder kamen nie vor ein Gericht, ja sie genießen auch über 15 Jahre nach dem Ende der Suharto-Diktatur noch höchstes Ansehen und haben weiterhin einflussreiche Positionen inne. Eine offizielle Aufarbeitung der Geschehnisse hat nie stattgefunden, auch wenn sich seit 1998 viele engagierte Initiativen auf nationaler und lokaler Ebene gebildet haben, die den Opfern von damals ihre Stimmen zurückgeben und gegen das kollektive Vergessen ankämpfen.

Die indonesische Schriftstellerin Leila Chudori; Foto: GIGABYTE
Schatten der Suharto-Vergangenheit: Leila Chudori behandelt in ihrem Roman "Pulang" die Folgen des Suharto-Regimes für die heutige indonesische Gesellschaft.

"Alle Farben Rot" ist zweifellos einer der wichtigsten und literarisch gelungensten Romane, die sich der traumatischen Folgen der Ereignisse von 1965/66 annehmen. Gleichwohl feiert die deutsche Presse etwas vorschnell Autorinnen wie Laksmi Pamuntjak, Leila Chudori und Ayu Utami - alle dem Salihara-Kulturzentrum in Jakarta verbunden -, die in ihren Werken angeblich erstmals wagemutig das Schweigen brechen. Das hat unter Salihara-kritischen Autoren wie Linda Christanty und A.S. Laksana für Empörung gesorgt. Zu Recht haben diese darauf hingewiesen, dass auch schon unter Suharto immer wieder Autoren wie Umar Kayam oder Ahmad Tohari über diese Zeit durchaus kritisch geschrieben haben, was damals deutlich mehr Mut bedurfte als heute.

Zwei aktuelle Romane zum Trauma von 1965

"Amba" – so der Titel im indonesischen Original – erschien 2012, im gleichen Jahr kam Leila Chudoris Roman "Pulang" heraus, der sich ebenfalls mit den Folgen von 1965 befasst. Man kann kaum über den einen Roman sprechen, ohne nicht auch den anderen zu erwähnen.

Beide Romane verweisen immer wieder auf die Welt des javanischen Schattenspiels. Damit schreiben sie traditionelle Mythen auf neue Weise fort, bedienen aber auch den orientalisierenden Blick des Westens, der seit der Kolonialzeit das Schattenspiel gerne zum alles erklärenden Symbol einer vermeintlich zeitlosen, vom Islam nahezu unberührt gebliebenen javanischen "Seele" idealisiert hat.

Eine wichtige Rolle spielt westliche Lyrik. Die Protagonisten beider Romane sind außerordentlich belesen. Dies reflektiert die Idee einer "Weltkultur", die seit Mitte des 20. Jahrhunderts einen großen Einfluss auf das Selbstverständnis von Intellektuellen in Indonesien ausübte. Ihre eigene Position auch in dieser Tradition verortend, setzen sich die säkular ausgerichteten Autorinnen zugleich vom Islam ab, der heute als globale Ideologie das Denken der urbanen Mittelschichten zunehmend prägt.  

Die Vergangenheitsaufarbeitung widmet sich vornehmlich dem Schicksal "unschuldiger" Opfer: Sowohl bei Chudori als auch Pamuntjak sympathisieren die zentralen Protagonisten  Bhisma und Dimas zwar mit kommunistischen Idealen, äußern aber deutliche Vorbehalte gegenüber jeglicher Form von Parteipolitik, sie sind keine Parteimitglieder.

Suche nach einem entpolarisierenden Weg der Mitte

Beide Autorinnen betonen, wie wichtig ihnen die Grautöne jenseits von polarisierenden Gut-Böse-Darstellungen sind. Das allein ist bereits ein wichtiger Schritt nach über 30 Jahren massiver antikommunistischer Indoktrinierung und Dämonisierung jeglichen linken Gedankenguts durch das Suharto-Regime. Der Fokus auf die "graue Mitte" vermeidet allerdings eine tiefere Auseinandersetzung mit eben diesen die damalige Gesellschaft spaltenden Polarisierungen. Die Welt überzeugter Kommunisten, massakrierender Soldaten und Milizen bleibt in beiden Romanen im Hintergrund, sie ist Teil einer verhängnisvollen politischen Dynamik, die von außen Unheil und Leid über die Protagonisten bringt.

Chudoris "Pulang" kommt, glaubt man Rezensionen auf goodreads.com, indonesischen Leseerwartungen nach leichter Lektüre eher entgegen als Laksmi Pamuntjaks literarisch deutlich anspruchsvollerer und hervorragend von Martina Heinschke ins Deutsche übertragener Roman, der wohl mehr dem westlichen Geschmack entspricht. Gleichwohl sind beide Romane sehr indonesisch darin, sich sowohl am westlichen Blick zu orientieren, als auch bei allem Aufklärungsanspruch eine ausgleichende, direkte Konfrontationen vermeidende Position der Mitte zu suchen.  

Bettina David

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