Kurdisch-libanesische Clans und Kriminalität - Wenn die Familie über dem Gesetz steht

Raubüberfälle, Drogenhandel - und Warnungen vor rechtsfreien Räumen: In deutschen Großstädten häufen sich Straftaten von Mitgliedern kurdisch-libanesischer Clans. Was steckt dahinter? Von David Fischer

Ein spektakulärer Juwelier-Raub im Luxuskaufhaus KaDeWe. Ein Überfall auf ein internationales Pokerturnier, ebenfalls in Berlin. Als rechtsfrei bezeichnete Räume im Ruhrgebiet, in die sich die Polizei kaum mehr traut. Im niedersächsischen Lüneburg: ein blutig ausgetragener Streit zweier Großfamilien mit Schüssen vor dem Klinikum.

Fälle wie diese haben in den vergangenen Jahren immer wieder Aufsehen erregt. Sie haben eine Gemeinsamkeit: Viele der Verdächtigen stammen von Clans ab, die bei der Polizei als schwer integrierbar gelten. Insbesondere in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen werden Mitglieder verdächtigt, bei illegalen Geschäften des Rotlicht-Milieus oder im Drogenhandel mitzumischen.

Mit Blick auf «die Erosion des Rechtsstaats» zählten libanesische Clans zu den gefährlichsten Gruppen in der Organisierten Kriminalität, heißt es bei der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Unzählige Straftaten spielen sich demnach in der Türsteher-Szene, im Rotlicht-Milieu oder im Glücksspiel-Geschäft ab. «Auch Bremen hat seit rund zehn Jahren ein Problem mit einem Familienclan, vor allem was den Drogenhandel in nicht geringer Menge angeht und die Polizei vor eine sehr große Herausforderung stellt», sagt Jochen Kopelke, GdP-Landesvorsitzender von Bremen.

Wie aus einem internen Lagebericht des Polizeipräsidiums Duisburg hervorgeht, geben in Duisburg-Marxloh zwei libanesische Großfamilien den Ton an. Marxloh, das ist der berüchtigte Stadtteil Duisburgs, in den sich die Polizei zeitweise nur mit Verstärkung in die Straßen wagte. Drogenhandel, Schutzgeld, Einbrüche, Randale - erst unter dem Einsatz starker Polizeikräfte kühlt sich die Gewalt auf den Duisburger Straßen seit dem vergangenen Sommer langsam ab.

Wenn von kriminellen Clans die Rede ist, fallen unterschiedliche Namen: Von «kurdisch-libanesischen Clans» ist die Rede, von «arabischen Familien», von «Mhallamiye-Kurden». Es geht um eine Bevölkerungsgruppe, zu denen deutschlandweit nach Schätzungen etwa 15.000 Menschen zählen. Doch weshalb stehen gerade sie derart stark im Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungen? Nach Einschätzung von Islam- und Migrationsforschern sind die kriminellen Strukturen in dieser Szene auf negative Erfahrungen in der fast 100 Jahre langen Fluchtgeschichte zurückzuführen.

Mit der Migration der arabischsprachigen Volksgruppe der Mhallamiye-Kurden hat sich der Berliner Islamwissenschaftler Ralph Ghadban auseinandergesetzt. In den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts flüchteten Tausende von ihnen aus wirtschaftlichen Gründen aus Dörfern aus dem südöstlichen Teil der Türkei in die libanesische Hauptstadt Beirut, wie der Forscher erklärt. Statt Arbeit oder eine neue Heimat zu finden, wurden sie dort jedoch wie Aussätzige behandelt: Erwachsene durften keinen Job annehmen, Kinder keine Schule besuchen. In Ghettos waren sie auf sich gestellt und umso stärker aufeinander angewiesen - dies erkläre noch heute die Verbundenheit und den engen Zusammenhalt der Stammesmitglieder, sagt Ghadban.

Als der Libanesische Bürgerkrieg 1975 ausbrach, setzte die zweite Flüchtlingswelle ein. Viele wanderten in den 80er Jahren nach Deutschland aus. Die meisten ließen sich in Berlin, Essen und Bremen nieder. In gewisser Weise wiederholte sich das Schicksal: Durch die restriktive Integrationspolitik seien Mhallamiye-Kurden hierzulande erneut ausgegrenzt worden, erklärt Ghadban. Asylanträge wurden abgelehnt. Wegen teils fehlender Papiere konnten Mhallamiye-Kurden aber nicht abgeschoben werden. «Sie wurden absichtlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt, mit dem Ziel, sie zur Rückkehr zu bewegen», ist Ghadbans Sicht auf die Dinge.

«Ein wesentliches Problem war die verbereitete Auffassung, dass viele Zuwanderer auf Dauer in Deutschland ohnehin nicht bleiben würden», erläutert Mathias Rohe, Islamwissenschaftler und Jura-Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Es sei deshalb kein Versuch unternommen worden, sie schnell ins System einzugliedern. «Die Menschen suchten stattdessen im Familiären Halt, und so wurdenbekannte Clan-Strukturen mit uralten Mechanismen wieder aufgebaut.»

Nach Auffassung der Forscher sind besonders Berlin, Bremen, Lüneburg, Hildesheim, Essen und Duisburg von Clan-Strukturen betroffen. «Inzwischen gibt es Stadtviertel, in denen man nur einen bestimmten Familiennamen nennen muss, und alle zucken zusammen», sagt Rohe.

Im vergangenen Jahr ermittelte die Polizei im Bereich der Organisierten Kriminalität gegen insgesamt 13 libanesische Gruppen. Es ging um Geldwäsche, Gewaltkriminalität oder Schleusung, hauptsächlich aber um Drogenschmuggel und Rauschgifthandel. 13 Gruppen deutschlandweit, das klingt zunächst nach wenig. Doch ein Blick in die Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) zeigt: Bei der Organisierten Kriminalität rangieren im Nationalitätenvergleich libanesisch-dominierte Gruppen auf dem neunten Platz, vor Rumänen und Russen. Mit 35.000 Menschen stellen Libanesen in Deutschland gerade aber mal 0,04 Prozent der Gesamtbevölkerung dar, wie aus Zahlen des Statistischen Bundesamts (31.12.2014) hervorgeht.

Jedoch sind solche Zahlen schwierig zu bewerten. So geht aus ihnen nicht hervor, welche der Verdächtigen innerhalb der kriminellen Gruppen tatsächlich kurdisch-libanesischen Clans angehören.

Neuerdings sollen Clans auch am Geschäft mit Flüchtlingen verdienen. In Essen sprengte die Polizei Anfang November einen international agierenden Schleuserring. Die 15 Beschuldigten sollen Libanesen und Syrer mit gefälschten Reisedokumenten und Visa ausgestattet haben.

10.000 Euro pro Kopf sollen die Schleuser laut Staatsanwaltschaft für ihre Dienste kassiert haben. Bei ihnen handele es sich um «polizei- und medienbekannte Angehörige eines libanesisch-kurdischen Familienclans der Volksgruppe der sogenannten Mhallamiye-Kurden», schreibt die Polizei. Die Gruppen seien den Ermittlern durch schwere Gewaltstraftaten im Rotlicht- und Rauschgift-Millieu aufgefallen.

In Lüneburg ging ein Konflikt zweier Großfamilien vor einer Klinik im September 2014 blutig aus: Die verfeindeten Clans libanesisch-kurdischer und türkisch-kurdischer Herkunft gingen aufeinander los, Schüsse fielen. Acht Menschen wurden verletzt. Drei Angeklagte hat das Landgericht Lüneburg zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Dagegen verlaufen viele andere Prozesse im Sande.

Befürchtet wird immer wieder, dass Clans ihre Konflikte mit selbst ernannten Friedensrichtern statt über den Richterspruch des Rechtsstaats lösen. Familienmitglieder, Zeugen und Anwälte würden so lange eingeschüchtert, bis der Prozess platze, sagt Ghadban.

Sein Kollege Mathias Rohe kam in einer Anfang Dezember vorgelegten Studie zum Thema «Paralleljustiz» zu dem Ergebnis, dass gewalttätige Clans in Teilen Berlins tatsächlich ein Klima der Angst geschaffen haben. In puncto Friedensrichter sieht Rohe die Lage aber eher entspannt - ihre Rolle werde weit überschätzt. In Berlin agierten weniger als 10, bundesweit schätzungsweise 30 bis 50 Menschen, die außerhalb von Gerichten Recht sprächen, erklärte Rohe bei der Präsentation der Studie. «Die Existenz irgendwelcher Scharia-Gerichte in Berlin lässt sich nicht belegen.»

Erich Rettinghaus, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) in Nordrhein-Westfalen, meint mit Blick auf die Straftäter: «Sie sind sehr schwer zu bekämpfen. Es gibt keine Aussteiger, keine Zeugen. Die Ermittlungen sind daher sehr rechercheintensiv.» Es gebe aber auch viele, die aus den Clan-Strukturen ausbrechen wollten, sagt Ghadban, der jahrelang die Beratungsstelle für Araber beim Diakonischen Werk in Berlin leitete. Auf der anderen Seite würden Mhallamiye-Kurden, die dem Clan den Rücken kehren wollen, bei der Job-Suche diskriminiert.

«Libanesische Familienclans» - ein Schimpfwort für Ahmad Omeirat. Der Kommunalpolitiker aus Essen sieht das Abdriften mancher Landsleute in die Kriminalität dem Versagen einzelner Städte geschuldet. Der 32-Jährige ist selbst Mhallamiye-Kurde, Geschäftsmann, Grünen-Abgeordneter im Essener Stadtrat - und ein Beispiel, dass Integration bei kurdisch-libanesischer Herkunft gelingen kann. Im Jahr 1985 flüchtete seine Familie aus dem Libanon.

«Als ich in Deutschland aufwuchs, hat es bei mir schnell klick gemacht. Ich habe kapiert, dass man hierzulande Titel sammeln muss, um etwas zu werden», sagt Omeirat. Gebildete Eltern, aufgewachsen in der Essener Innenstadt, mit der Schwester einen Kindergarten besucht, keine Abgrenzung, keine «Rudelbildung» in der Kindheit mit anderen Libanesen, «das war sicher hilfreich», sagt Omeirat. Dann kam die Jobsuche. Traumjob: Herrenmode. Das Problem: Vorname «Ahmad», Nachname «Omeirat» auf dem Bewerbungsbogen. Mehr als hundert Bewerbungen wurden verschickt. Es kamen nur Absagen zurück.

«Das war frustrierend, das hat mich getroffen», sagt Omeirat. Trotz der vielen Tiefschläge ging er seinen Weg. Er absolvierte eine Lehre im elterlichen Juweliergeschäft. Heute engagiert er sich in der Aufklärungsarbeit gegen islamistische Strömungen und versucht, Jugendliche in den Brennpunkten des Ruhrgebiets von der falschen Bahn abzubringen. Und zurück in die Gesellschaft. (dpa)