Die Kraft der Masse

Bei den Aufständen in der arabischen Welt spielte die "Politik der Masse" eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Gegensatz zu Parteien und politischen Bewegungen bilden sich Protestgruppen oft schnell und organisch, ihre Ziele sind direkt und konkret. Eine Analyse von Sami Mahroum

Von Sami Mahroum

Bereits 1896 warnte der Sozialpsychologe Gustave Le Bon seine Zeitgenossen vor den Gefahren der Massen und schrieb: "Es ist wichtig, die Probleme der [Massen-] Psychologie zu lösen, oder wir werden von ihnen verschlungen."

Angesichts dessen, dass die organisierten politischen Bewegungen in der gesamten arabischen Welt von spontanem Protest überrollt werden, sollten sich die Anführer der jungen Demokratien von Tunesien, Ägypten und Libyen Le Bons Warnung zu Herzen nehmen.

Seit die Straßen von Tunis, Kairo, Bengasi und anderen arabischen Städten von der Menge besetzt und die alten Regimes gestürzt wurden, fragen sich Beobachter und Analysten, wohin die arabische Welt steuert. Dabei haben sie oft nur die politische Dimension der Ereignisse im Blick: Wer sind die Führer, und was sind ihre Forderungen?

Angesichts der Hartnäckigkeit, der Intensität und der Häufigkeit der Proteste – wie im letzten September, als der libysche US-Botschafter J. Christopher Stevens in Bengasi von örtlichen Milizen ermordet wurde – wird der Einfluss von Kultur und Massenpsychologie auf die Zukunft der arabischen Welt deutlich. Nach Jahrzehnten autoritärer Herrschaft und frustriert durch diskreditierte Institutionen sowie gelähmte politische Parteien begannen die Bürger, zur Organisation zivilen Widerstandes soziale Medien zu verwenden.

Aufschrift Twitter an einem Laden nahe dem Tahrir-Platz in Kairo im Februar 2011; Foto: Peter Macdiarmid/Getty Images
Soziale Medien als Katalysatoren des Protests: Als erste Bewegung ihrer Art konnten sich die demonstrierenden Massen in Ägypten bereits lange vor Ausbruch des Aufstands gegen das Mubarak-Regime über das Internet verabreden und ihren Protest organisieren.

​​Massendynamik als politischer Faktor

Infolgedessen sehen sich die Länder des Arabischen Frühlings nun politischen Bereichen gegenüber, die nicht durch echte politische oder ideologische Bewegungen, sondern durch Massendynamik bestimmt sind. Tatsächlich kann vieles, was heute in der arabischen Welt geschieht, am besten durch die Untersuchung dieser Massendynamik verstanden werden.

Menschenmengen unterscheiden sich insofern von Organisationen, als dass sie nicht von rigiden Hierarchien bestimmt werden, sondern oft unter der Leitung von Individuen ohne bestimmten festgelegten Rang stehen. Und im Gegensatz zu politischen Bewegungen bilden sie sich oft schnell und organisch, wie dunkle Wolken vor einem Sturm, und ihre Ziele sind direkt und konkret: Umstellung dieser Polizeiwache, Besetzung jenes Ministeriums usw. In der "Politik der Masse" sind Emotionen oft wichtiger als Ziele.

Das erste arabische Land, das die Politik der Massen zu spüren bekam, war wahrscheinlich der Libanon. Nach der Ermordung des Premierministers Rafik Hariri im Februar 2005 versammelten sich Menschenmengen auf dem Märtyrerplatz in der Innenstadt von Beirut.

Unorganisierte Massen wurden mit der Zeit in der libanesischen Politik zu einer dominanten Kraft und stellten die strukturierten Gruppen in den Schatten. Tatsächlich haben sich die beiden rivalisierenden politischen Koalitionen des Libanon, die Allianz des 8. März und die Allianz des 14. März, nach Massenversammlungen benannt, die 2005 an den entsprechenden Tagen stattfanden.

Libanesische Demonstranten feiern den Sturz der Regierung auf Beiruts Märtyrerplatz, März 2005; Foto: EPA/Nabil Mounzer
Die Entdeckung der Politik der Massen: Nach der Ermordung Rafik Hariris im Februar 2005 gewannen die Proteste im Verlauf der "Zedernrevolution" eine beachtliche Eigendynamik, wie sie der Levantestaat zuvor noch nie erfahren hatte.

​​"Souveränität der Massen"

Die Erfahrung des Libanon zeigt die Unstimmigkeiten zwischen der Psychologie der Massen und den Zielen der nachfolgenden politischen Eliten auf – ein Konflikt, der auch auf dem ägyptischen Tahrir-Platz, im tunesischen Sidi Bouzid und im libyschen Tripolis stattfindet, wo Menschenmengen in den letzten Monaten mehrmals das Parlamentsgebäude gestürmt haben.

Diese Dissonanzen und der wachsende Wettbewerb zwischen der von Le Bon so bezeichneten "Souveränität der Massen" und der Souveränität der politischen Eliten drohen, die zaghaften Demokratisierungsprozesse dieser Länder aus der Bahn zu werfen.

Unter diesen Umständen ist die wahre Herausforderung der Länder des Arabischen Frühlings zumindest kurzfristig nicht ideologischer, sondern institutioneller Natur.

Die Regierungen müssen Wege finden, kleine Gruppen davon abzuhalten, den Masseneffekt als politisches Kapital zu gebrauchen, damit nicht Gruppengrößen einen größeren Einfluss erhalten als die Anzahl abgegebener Wählerstimmen. Aber traditionelle demokratische Institutionen wie politische Parteien, Parlamente und Beratungsausschüsse haben mit solchen Herausforderungen keine Erfahrung.

Das Zeitalter der "iCrowds"

Die sozialen Medien sind sowohl Teil des Problems als auch Teil der Lösung. Im Gegensatz zu Osteuropa in den späten 1980ern und den frühen 1990ern hatten sich die Massen des Arabischen Frühlings vor ihrer Versammlung auf der Straße bereits im Internet formiert – als erste Bewegung ihrer Art. Der Arabische Frühling folgte dem Vorbild der iranischen grünen Bewegung 2009 und läutete das Zeitalter der "iCrowds" ein – angezogen, mobilisiert und organisiert über die sozialen Medien.

Ein syrischer Mann in einem Internet-Café in Damaskus; Foto: AP Photo/Muzaffar Salman
Krieg der digitalen Revolte: Anfang 2011 sperrte die syrische Regierung den Zugriff auf YouTube und Facebook, um einer ähnlichen Entwicklung wie in Ägypten oder Tunesien vorzubeugen, wo es den Regimegegnern gelungen war, ihren Widerstand über soziale Medien zu organisieren.

​​Aber diese können auch effektiv dazu verwendet werden, Menschen zu demobilisieren und die Spaltung zwischen der Psychologie und Macht der politischen Führung und derjenigen der Massen zu verringern. Die junge politische Klasse muss ihr Verständnis von "iCrowd"-Politik verbessern und lernen, sich die Macht von Werkzeugen wie Facebook, Twitter, YouTube, Blogs, Apps und Kurznachrichten nutzbar zu machen.

In den Vereinigten Staaten hat die Wahlkampagne von Präsident Barack Obama diese Gelegenheit genutzt und soziale Medien ausgiebig zur Übermittlung politischer Botschaften sowie zur Motivation und Mobilisierung von Unterstützern verwendet.

Sobald er im Amt war, führte Obama die App des Weißen Hauses ein, um Bürgern damit eine neue Art der Verbindung mit ihren Politikern in Washington zu ermöglichen. Sie ermöglicht Information über aktuelle Entwicklungen, Einsichten in administrative Initiativen und Zugriff auf hochauflösende Fotos und Live-Übertragungen von Ereignissen im Weißen Haus.

Die Lektion für die neuen politischen Eliten der arabischen Welt ist eindeutig: Massendynamiken können nicht ignoriert werden. Wenn sie sorgfältig beobachtet werden, können soziale Medien so interpretiert werden wie Wolken, die einem Sturm voraus gehen. Wenn dies früh genug erkannt wird, können Lösungen gefunden werden, um stürmische Massen zu zerstreuen, bevor sie empfindliche neue Institutionen überfluten.

Sami Mahroum

© Project Syndicate 2013

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de