Flucht der Hoffnungslosen

Wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise und der hohen Arbeitslosigkeit ist die Versuchung vieler junger Tunesier auch nach der "Jasminrevolution" groß, ihrem Land den Rücken zu kehren. Umso wichtiger sind Projekte zur Selbsthilfe, die der jüngeren Generation neue Perspektiven eröffnen und sie vor der Reise ins Ungewisse abhalten. Von Beat Stauffer

Von Beat Stauffer

Nabil Ben Abdesselem betreibt in einem Vorort von Zarzis einen kleinen Lebensmittelladen. Der 30-jährige Mann mit freundlichem Gesicht und Vollbart hat eine ganz besondere Geschichte: Er gehört zu den "Harraga", den jungen Männern, die nach der Flucht Ben Alis und dem darauffolgenden Durcheinander die Chance ergriffen hatten, das Weite zu suchen: nach Lampedusa, Sizilien, Mailand und Paris.

Bei seinem Bruder kam Nabil für ein paar Wochen unter. Doch dann realisierte er, wie schwierig das Leben in Frankreich für Migranten aus dem Maghreb ist. Und nicht nur für sie: Einmal habe ihn gar ein arbeitsloser Europäer um Geld angebettelt.

Als Nabil von einem Rückkehrerprogramm vernahm, meldete er sich beim französischen Amt für Immigration und Integration. Er erhielt 3.000 Euro, ein Flugticket nach Tunesien und die Zusicherung finanzieller Unterstützung, falls er in der Heimat ein Projekt realisiere.

Und genau das setzte er in die Tat um. In einem Außenquartier der südtunesischen Stadt Zarzis, unweit der libyschen Grenze, konnte sich Nabil eine Garage mieten, die er in kürzester Zeit zu einem kleinen Lebensmittelgeschäft umfunktionierte. Dabei unterstützte ihn die "Vereinigung für nachhaltige Entwicklung und internationale Zusammenarbeit" (ADDCI), eine lokale NGO, die seit rund zehn Jahren existiert.

"Für mich ist das ein Lebensprojekt"

Nabil Ben Abdesselem in seinem Lebensmittelladen in einem Vorort von Zarzis; Foto: Beat Stauffer
Aufbruch zu neuen Ufern: Nach seiner Rückkehr aus Europa führt Nabil Ben Abdesselem einen kleinen Lebensmittelladen, mit dem er sich inzwischen seinen Lebensunterhalt weitgehend selbst bestreiten kann.

​​Die kleine Boutique hat inzwischen eine treue Kundschaft, und Nabil kann sich seinen Lebensunterhalt weitgehend selbst verdienen. "Für mich ist das ein Lebensprojekt", sagt der junge Mann, der nach einem abgebrochenen Abitur fast zehn Jahre lang in verschiedenen Bereichen gejobbt hatte, ohne je eine feste Anstellung zu finden. Gerne würde Nabil seine schwierigen Erfahrungen an die jungen Männer weitergeben, die in Zarzis in den Cafés herumhängen und von einem besseren Leben in Europa träumen.

Es wäre sehr wichtig, diese jungen Männer über die Risiken der klandestinen Ausreise und auch über die Schwierigkeiten zu informieren, die sie in Europa erwarten, sollte ihnen die gefährliche Fahrt übers Meer tatsächlich gelingen. Dies meinen nicht nur Politiker in Europa, die Furcht vor einem weiteren Ansturm von Arbeitsmigranten aus dem Süden haben.

Auch in Zarzis gibt es immer mehr Menschen, die meinen, dass nun dringend etwas getan werden müsste. Das Kentern eines Flüchtlingsbootes vor der Küste von Lampedusa, bei dem Anfang September rund 70 Menschen ihr Leben ließen, hat die tunesische Öffentlichkeit aufgeschreckt und zugleich unmissverständlich dokumentiert, dass die klandestine Emigration fast unvermindert weitergeht.

Klar wurde aber auch einmal mehr, in welchem Ausmaß selbst offizielle Stellen die Augen zudrücken, wenn es um die illegale Migration nach Europa geht. Der Chef der Küstenwache von Sfax habe ihnen sogar noch eine gute Reise gewünscht, erklärte einer der 56 "Harraga", die vor Lampedusa gerettet werden konnten, in einer Sendung des tunesischen Fernsehens.

Das blühende Geschäft mit der illegalen Migration

Das ist wohl kein Einzelfall: Auch in Zarzis bestätigen mehrere Augenzeugen, dass offizielle Stellen sehr wohl über die klandestine Emigration im Bild seien und oft auch für ihr Wegsehen sogar Geld erhielten. Das höchst lukrative Schleppernetz blüht weiter – und alle wissen, wer die Fäden zieht.

Der Hafen von Zarzis; Foto: Beat Stauffer
Triste Aussichten für die jüngere Generation von Zarzis: Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit der jüngeren Generation sehen viele in der illegalen Migration über das Mittelmeer die einzige Chance, der beruflichen Perspektivlosigkeit zu entfliehen.

​​So erstaunt es nicht, dass in der Praxis kaum etwas gegen die klandestine Emigration unternommen wird und dass kaum Präventionsarbeit betrieben wird. Zwar hatte auch die "Vereinigung für nachhaltige Entwicklung und internationale Zusammenarbeit" vor einiger Zeit einen Film produzieren lassen, der auf die Gefahren der klandestinen Emigration aufmerksam macht. Doch konkrete Aufklärungsarbeit in Sekundarschulen, Gymnasien und Jugendhäusern, wird bis heute kaum betrieben, wie Ortsansässige übereinstimmend berichten.

Doch genau an diesem Punkt möchten nun einige Vereinigungen ansetzen. Etwa die Organisation "Bürgersinn und Würde", die sich als eine Art "Rat der Weisen" versteht oder die "Vereinigung für die lokale Entwicklung von Zarzis". Den beiden Organisationen ist gemein, dass sie das schwierige Problem der klandestinen Emigration grundsätzlich lösen wollen.

Die Illusion von Reichtum und Wohlstand

Dabei ist auch ihnen bewusst, wie schwierig das in einer Region ist, in der viele nur in der Auswanderung eine Chance für ein würdiges Leben und ein angemessenes Einkommen sehen – in einer Stadt wie Zarzis, in der jeden Sommer junge Männer, die in Europa zu Geld gekommen sind, ihre neuen Motorräder, Autos, Mobiltelefone und modischen Klamotten vorführen und damit unter Beweis stellen wollen, wie unendlich viel besser das Leben in Europa ist.

Zumindest in Zarzis zeigt sich auch, dass es nicht einfach ist, vor Ort seriöse Partner für Migrationsprojekte zu finden. Denn die Organisation ADCCI, die im Auftrag des französischen Staates den Rückkehrern bei der Realisierung ihrer Projekte hilft und Subventionen ausrichtet, ist in Zarzis wegen mangelnder Transparenz und auch wegen des Vorwurfs der Bestechung in einigen Fällen sehr umstritten.

Angesichts der immer noch instabilen und wirtschaftlich schwierigen Lage in Tunesien dürfte die Versuchung, das Land zu verlassen, für viele junge Männer auch weiterhin groß sein. Einzig überzeugende Projekte vor Ort, die gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen und letztlich Hoffnung auf ein besseres Leben vermitteln, könnten längerfristig junge Menschen von der Reise ins Ungewisse abhalten.

Beat Stauffer

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de