Islamwissenschaftler Reinhard Schulze sieht Zerfall der islamischen Welt

Der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze diagnostiziert angesichts des Konflikts zwischen dem Iran und Saudi-Arabien einen Zerfall der islamischen Welt. Man könne ohne Zweifel von einem Auseinanderbrechen sprechen, sagte der an der Universität Bern lehrende deutsche Wissenschaftler am Dienstag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). «Die Einheit der islamischen Welt gibt es nicht mehr.»

Den aktuellen Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien interpretiert der Islamwissenschaftler als einen politischen Konflikt um die Vorherrschaft in der Region. «Saudi-Arabien setzt seine Hegemonialpolitik der vergangenen zwei, drei Jahre fort.» Mit der Hinrichtung des Geistlichen Nimr al-Nimr habe die Regierung in Riad einen prominenten Repräsentanten der schiitischen Minderheit loswerden wollen.

«Zugleich signalisiert die Regierung, dass sie jedweden Anspruch Irans, Schutzmacht der Schiiten auch in Saudi-Arabien zu sein, unterbinden will.» Auch der Iran habe eine starke außenpolitische Agenda und versuche, seinen Einfluss im Libanon, in Syrien, Irak, Bahrain und eben auch in Saudi-Arabien auszubauen.

Die religiöse Komponente, also den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, sieht Schulze dagegen nur als zweitrangig an. «Diese Konfessionalisierung, in der ganze Staaten als Schutzmächte der verschiedenen religiösen Richtungen auftreten, lässt sich erst in den vergangenen 15 bis 20 Jahren beobachten.» Sie sei entstanden, weil sich verschiedene Regime nach dem Scheitern der alten, oft sozialistischen Entwicklungsmodelle vermehrt einer religiösen Legitimation bedienten.

Den eigentlichen religiösen Konflikt sieht der Islamwissenschaftler dabei nicht zwischen Schiiten und Sunniten, sondern zwischen Schiiten und der im 18. Jahrhundert entstandenen, radikalen puritanischen sunnitischen Richtung, dem Wahhabismus, der in Saudi-Arabien zur dominanten, vom Staat geschützten Konfession geworden sei. «Der Wahhabismus hat eine stark antischiitische Ausrichtung. Er vertritt die Position, dass es keinerlei Darstellung des Göttlichen in der Welt geben dürfe außer dem Koran und dass allein die Tradition des Propheten Muhammad die Lebensführung des Einzelnen zu bestimmen habe», so Schulze.

«Schiiten dagegen verehren die Imame an ihren Grabstätten als Mittler zwischen Gott und den Menschen und betonen vielfach fromme Rituale, in denen auf eine Präsenz der Göttlichkeit in der Welt Bezug genommen wird.» (KNA)