Religion darf nicht als Integrationsproblem betrachtet werden

Der bekenntnisorientierte islamische Religionsunterricht darf nicht zu einem Integrationsunterricht verkommen und muss die Erwartungen der Muslime ernst nehmen, wenn er authentisch und praxisbezogen sein will. Ein Kommentar von Nimet Seker

Von Nimet Seker

Die Einführung des islamischen Religionsunterrichts ist in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen beschlossene Sache: Ab dem Schuljahr 2012/13 soll der Religionsunterricht als reguläres Schulfach eingeführt werden.

Insgesamt besuchen in Deutschland 700.000 Kinder aus muslimischen Familien die Schule – bisher haben sie keinen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht.

In den letzten Jahren hat der Staat die Einführung des islamischen Religionsunterrichts maßgeblich vorangetrieben und zuletzt die Gründung von islamisch-theologischen Lehrstühlen an mehreren Standorten mit finanziellen Mitteln gefördert. Hier sollen die zukünftigen Lehrer für den islamischen Religionsunterricht und auch Imame ausgebildet werden.

Hierbei fällt jedoch eine latente Diskrepanz in den Erwartungen der Öffentlichkeit, der Politik und der Muslime auf:

Eine Moschee aus Papier: ein Projekt im Islamunterricht an einer niedersächsischen Grundschule; Foto: dpa
In Niedersachsen gibt es den islamischen Religionsunterricht seit Sommer 2003 in einem Modellprojekt. Ziel ist es, 2012 oder 2013 islamischen Religionsunterricht als reguläres Fach an Schulen einzuführen.

​​Die Mehrheit der Muslime erwartet einen Religionsunterricht, der ihren Kindern islamische Werte und Normen vermittelt und der als Anleitung, Information und Reflexion über ihren Glauben dient. Der Unterricht stellt ein Angebot dar: Muslimische Kinder können eine Beziehung zu Gott aufzubauen und etwas über ethisches Handeln lernen. Bisher fehlt dieses Angebot an den Schulen.

Etwa an niedersächsischen Grundschulen: Während die katholischen und evangelischen Kinder im Religionsunterricht sitzen, wird für die muslimischen Kinder parallel kein Ethik-Unterricht angeboten, die Kinder müssen diese Zeit an der Schule vertrödeln. In den ersten vier Schuljahren werden die Schüler also in der Luft hängen gelassen.

Auf der anderen Seite ist man mit dem Islamunterricht in den Moscheen unzufrieden, da hier noch sehr oft auf stures Auswendiglernen gesetzt wird und die Reflexion über ethische und spirituelle Fragen viel zu kurz kommt. Die wenigsten Moscheevereine arbeiten mit pädagogisch geschultem Personal, weil ihnen einfach die Mittel dazu fehlen. Insofern sind die muslimischen Erwartungen an den Religionsunterricht sehr hoch.

Von Seiten der Politik und der Öffentlichkeit gibt es eine etwas andere Erwartungshaltung: Kürzlich sprach Christian Walter, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Münster, im Zusammenhang mit der Einrichtung von islamisch-theologischen Lehrstühlen an den Universitäten von einem "legitimen Zähmungsinteresse" des Staates.

Innenminister Thomas de Maizière sprach auf einer Tagung zum Islamischen Religionsunterricht in Deutschland von einem "wertvollen Beitrag zur Integration". Es scheint fast ein Naturgesetzt zu sein: Wo vom Islam die Rede ist, wird automatisch auch von Integration gesprochen. Ein Leitgedanke dabei ist: Muslime, in diesem Fall muslimische Kinder im Religionsunterricht, müssen integriert werden.

Islam - längst keine "Migrantenreligion" mehr

Der Islam in Deutschland ist aber längst keine Migrantenreligion mehr. Im islamischen Religionsunterricht sitzen auch muslimische Kinder von deutschen Eltern. Man würde ihnen, und auch den fremdstämmigen Kindern, großes Unrecht tun, sie im Religionsunterricht mit "Integrationsfragen" zu konfrontieren. Aus Sicht von Religionspädagogen wäre es vermutlich sogar eine Katastrophe.

Der Religionsunterricht darf nicht den ethnisch-religiösen Hintergrund der Schüler zum Anlass nehmen, um über Störfälle in der "Integration" nachzudenken. Auch politische Fragen sollten aus dem islamischen Religionsunterricht herausgehalten werden. Und: Ob Aischa mehr integriert ist, weil sie an der Klassenfahrt teilnimmt und ihre Mitschülerin Malika nicht, hat nichts mit ihrer Religiosität zu tun. Das ist auch keine politische Frage.

Schüler schreibt das Wort Integration auf eine Tafel; Foto: dpa
"Integration bedeutet sich in ein großes Ganzes einfügen. In diesem Begriff wird die deutsche Gesellschaft als ein homogenes Kollektiv imaginiert. Die muslimische Identität ist nicht an ethnische oder nationale Identitäten gebunden, sondern der Islam betont die Gleichheit aller Menschen vor Gott", schreibt Seker.

​​Integration ist eine soziale Frage. In seiner Rede spricht Minister de Maizière auch vom islamischen Religionsunterricht als ein Mittel der Gleichberechtigung von muslimischen Schülern. Das ist richtig und gut: Muslimische Schüler denken im Unterricht in deutscher Sprache über ihren Glauben nach und werden für das Zusammenleben in einem christlichen und areligiösen Umfeld sensibilisiert. Partizipation ist das Schlüsselwort, nicht Integration. Vom islamischen Religionsunterricht darf also kein Integrationswunder erwartet werden.

"Integration" bedeutet sich in ein großes Ganzes einfügen. In diesem Begriff wird die deutsche Gesellschaft als ein homogenes Kollektiv imaginiert. Die muslimische Identität ist nicht an ethnische oder nationale Identitäten gebunden, sondern der Islam betont die Gleichheit aller Menschen vor Gott.

Leider spielen in manchen Moscheevereinen nationale Identitäten noch eine Rolle. Hier stellt der islamische Religionsunterricht in deutscher Sprache eine große Chance dar: Durch das gemeinsame Lernen von bosnisch-, arabisch-, afrikanisch-, türkisch- und deutschstämmigen muslimischen Schülern wird der egalitäre Gedanke des Islams betont. Das ist ein starkes und wichtiges Moment gerade im pluralistischen Deutschland.

Somit sehe ich im islamischen Religionsunterricht auch eine Chance für das Zusammenwachsen und den respektvollen Umgang innerhalb der muslimischen Gemeinden und mit den Nichtmuslimen. Deswegen ist die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen zu begrüßen.

Paradoxe Situation

Grundsätzlich stellt sich aber die Frage: Wenn der bekenntnisneutrale Staat etwa in Nordrhein-Westfalen das Tragen von islamischen Kopfbedeckungen für Lehrerinnen verbietet, wird er sich vielleicht auch daran stören, dass Schüler das islamische Gebet lernen? Beides ist gelebte Religiosität. Eine paradoxe Situation.

Die öffentliche Meinung beeinflusst die Politik und umgekehrt. In der öffentlichen Meinung wird islamische gelebte Religiosität nicht selten als Störfall wahrgenommen: Wir erinnern an das Gerichtsurteil im Fall des Berliner Schülers, der sein Recht auf Gebet in der Schule eingeklagt hatte und damit für viel Verstörung gesorgt hatte.

Pädagogisch und juristisch gesehen sind solche Fragen kein Problem, man kann sie auf diesen Wegen lösen, so dass alle Beteiligten zufrieden sind. Doch der Störeffekt bleibt. Er ist ein Hinweis dafür, dass gelebte muslimische Religiosität noch als etwas Fremdes betrachtet wird.

Alevitischer Religionsunterricht in Deutschland; Foto: dpa
Vorreiterrolle beim islamischen Religionsunterricht: Alevitischer Religionsunterricht findet zur Zeit in Berlin, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern, Hessen und dem Saarland statt.

​​Die Öffentlichkeit sieht indes noch Probleme, die in der Realität schon aufgehoben sind. Zum Beispiel das Zusammenspiel der muslimischen "Konfessionen": Die türkischen Aleviten sind in einigen Bundesländern als eigene Religionsgemeinschaft anerkannt und haben bereits einen eigenen konfessionellen Religionsunterricht eingeführt.

Im muslimischen Dachverband Schura Niedersachen e.V. haben sich sunnitische und schiitische Muslime verschiedener Herkunft zusammengetan und ein gemeinsames Curriculum ausgearbeitet. Sunnitische Kinder lernen etwas über schiitische Besonderheiten und umgekehrt – allein das ist eine enorme Bereicherung, denn diese Form von dialogischer Reflexion findet im Koranunterricht der Moscheen kaum statt.

Das islamische "Konfessionsproblem" ist ein mediales Gespenst, dass von Seiten der muslimischen Verbände und Beiräte für den islamischen Religionsunterricht keine Rolle spielt.

Die Sorgen liegen auf muslimischer Seite anderswo: Manche Eltern haben Angst vor einem sinnentleerten Inhalt in diesem Unterricht. Sie wünschen sich einen authentischen und ganzheitlichen Religionsunterricht, der auch die Glaubenspraxis einbezieht: Das heißt nicht, dass die Schülerinnen ein Kopftuch tragen und die Schüler sich nach dem Vorbild des Propheten Muhammad einen Bart wachsen lassen sollen – Glaubenspraxis lehren bedeutet, Rituale lehren: Zum Beispiel das fünfmalige rituelle Gebet lehren. Doch wie wird das geschehen: Wird der Lehrer einen Gebetsteppich ausbreiten und sich darauf gen Mekka niederwerfen? Wohl kaum.

Die Schule kann nicht alles leisten. Daher sollte die Schule der Ort der Theorie sein und die Moschee der Ort der Orthopraxie. Das für das rituelle Gebet notwendige Auswendiglernen von Koransuren etwa muss die Moschee und die Familie leisten – Schule und Moschee können sich so ergänzen.

Freie Entscheidung über Glaubenspraxis

In der Schule kann über den spirituellen Sinn der einzelnen Handlungen im Gebet reflektiert werden. Die Schule kann nur theoretisches Wissen liefern, und das ist auch gut so. Jeder Schüler soll sich frei entscheiden können, wie er seinen Glauben praktiziert.

Für den praktischen Unterricht stellen sich aber auch ganz andere Fragen: Wie wird das Thema Götzenbildverbot im Unterricht behandelt werden? Im Islam ist die Anbetung von Bildern, auf denen Allah, die Propheten oder andere Personen dargestellt sind, tabu.

Im Idealfall dürfen solche Bilder erst gar nicht hergestellt werden, weil sie den Eingottglauben relativieren könnten. Solche Detailfragen stellen den Unterricht vor Herausforderungen und müssen religionspädagogisch noch bearbeitet werden. Teilweise gehen sie theologisch in die Tiefe, so dass sich die Frage stellt, ob sie überhaupt an der Schule vermittelbar sind. Ist die Schule der richtige Ort dafür?

Das sind religionspädagogische Fragen. Das größte Problem für den islamischen Religionsunterricht ist das Fehlen von adäquat ausgebildetem Lehrerpersonal. An vielen Schulen unterrichten Lehrer, die für das Fach gar nicht ausgebildet sind. Oft sind es Türkisch- und Arabischlehrer.

Die religiöse Einstellung der Lehrer reicht von religionskritisch über areligiös bis hin zu sehr religiös. Man kann sich unschwer vorstellen, wie bei einem religionspädagogisch nicht ausgebildetem Personal die persönliche Haltung zur Religion auch den Unterricht bestimmt.

Aus diesem Grund ist eine akademische Ausbildung der Religionslehrer, insbesondere im Bereich der Didaktik, entscheidend für einen pädagogisch sinnvollen Islamunterricht. Die seit Jahren anhaltende Diskussion um die politischen Rahmenbedingungen muss aufhören.

Was nun benötigt wird, ist eine Diskussion um die pädagogischen Rahmenbedingungen. Die Universitäten müssen die Religionspädagogik ausbauen und über didaktische Fragen nachdenken, so dass eine Erziehung zu wertrelevantem Verhalten stattfinden kann.

Nimet Seker

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de