Wendezeit für den Islam

Theologie und Pädagogik können jungen Muslimen eine bessere Alternative bieten als die im Abseits agierenden Hassprediger. Von Harry Harun Behr

Von Harry Harun Behr

Im Jahr 2010 empfahl der Deutsche Wissenschaftsrat, das Fach Islamische Theologie an deutschen Universitäten einzuführen. Kürzlich beschloss das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Förderung fortzusetzen. Wo steht das junge Fach heute?

Theologie bedeutet akademische Forschung über die Grundlagen der Religion. Sie hat eine klärende Funktion, und dies macht das Fach interessant. Die deutsche islamische Theologie ist nicht nur für muslimische Intellektuelle aus den Ländern zwischen Casablanca und Surabaya verlockend. Sie ist unter der Rubrik "Dialog mit der islamischen Welt" auch Gegenstand der Auswärtigen Kulturpolitik.

Dazu ein Beispiel aus Tunesien. In Sousse traten im vergangenen Jahr Gesellschaftswissenschaftler und Theologen zu einer Tagung zusammen. Es ging um Islam und Politik in den Staaten des Arabischen Frühlings, der inzwischen mit so vielen Enttäuschungen endete. Ich wurde dort gebeten, darauf einzugehen, wie religiöse, pädagogische und politikwissenschaftliche Theorien entstehen. In Versen des Korans wird beschrieben, wie sich in Konflikten emotionale und soziale Motive verkanten können. Spannend ist, dass dort die Frage des Glaubens zurückgefahren wird. Sachverstand, Pragmatik und Fragen religiöser Erkenntnistheorie rücken vor.

Keine Islamisierung der säkularen Verfassung

Mit Blick auf die arabischen Verfassungsdiskurse herrschte Konsens unter den Kollegen: keine Islamisierung der säkularen Verfassung; die Scharia ist im theologischen Wortsinne als islamische Normen- und Methodenlehre zu sehen; das Recht bedarf der Reformulierung gemäß demokratischer, zivilgesellschaftlicher und rechtsstaatlicher Standards.

Der Diskurs des Korans um Mensch, Welt und Gott hat zunächst eine kulturgeschichtliche Sollbruchstelle: Heilige Schriften verraten, wie zur Zeit ihrer Entstehung und andernorts Religion und Gesetz verhandelt wurden. Aber der Koran gründet in einer dritten Domäne, die zwischen der religiösen und der säkularen liegt: den nicht verhandelbaren menschlichen Normen des sittlich Guten. Hier entfaltet sich die zeitlose Dimension des Korans. Historisch gesehen ist er sowohl Ergebnis als auch Startpunkt von Theologie.

Mann liest den Koran; Foto: dpa/picture-alliance
Neuinterpretation des Korans: "War der frühe Korankommentator at-Tabarī im 9. Jahrhundert noch auf der Suche nach dem eindeutig Gemeinten, fragte rund dreihundert Jahre später der Perser Fachruddīn ar-Rāzī nach der Intention des Interpreten. Damit vollzog sich eine erste Bewegung von der Oberfläche des Korans in seine Bedeutungstiefe", so Harry Harun Behr.

Damit ist eine anthropologische Wende in der islamischen Theologie eingeleitet, die nicht als Abkehr von den religiösen Traditionen des Islams, sondern als Verschiebung des Reglers zu verstehen ist: weniger Traditionalismus, mehr Blick für die Situationen, in denen Menschen leben, weniger Hörigkeit gegenüber dem Kollektiv, Stärkung des Individuums, weg vom Islam als partikularem System und hin zum Islam als Ressource, die das Leben bereichert.

Mehr Mut zu Geist und Vernunft

Gemeint ist die Mobilisierung der ethischen Substanz des Islams in universaler Perspektive. Das berührt auch die Handhabung des Korans. War der frühe Korankommentator at-Tabarī im 9. Jahrhundert noch auf der Suche nach dem eindeutig Gemeinten, fragte rund dreihundert Jahre später der Perser Fachruddīn ar-Rāzī nach der Intention des Interpreten.

Damit vollzog sich eine erste Bewegung von der Oberfläche des Korans in seine Bedeutungstiefe. Heute geht es darum, den Koran in seiner eigenen aufklärerischen Tradition zur Sprache zu bringen. Mehr Mut zu Geist und Vernunft ist die passende Antwort auf die Vergöttlichung des Papiers. Von der steht übrigens nichts Maßgebliches im Koran, den Mohammed als "die Gesamtheit der Rede" (jawāmi' al-qurān) bezeichnete.

Islamische Theologie soll folglich Orientierung geben. Mit ihrer Einführung in den Kanon der universitären Disziplinen verbindet sich eine kulturpolitische Erwartung: ihre Übersetzung in die vorgefundenen kulturellen Codes und ihre Einmischung in die öffentlichen Leitbilddiskurse. Die entbrennen momentan auch wegen der Geschehnisse in der Silvesternacht in Köln.

Letztere leiten über zu der Frage, was in der Biografie eines Mannes passieren muss, dass er sexuelle Erregung nur in Verbindung mit Gewalt erfahren kann. Das kennt man aus totalitären Strukturen, in denen ethische und moralische Codes pervertiert werden, um angepasstes Verhalten zu erzwingen. Die dadurch verursachte Fragmentierung der körperlichen und seelischen Identitäten ist deshalb auch ein Problem von politischen Systemen, in denen der Islam für die Legitimation von Unrecht beansprucht wird.

Harry Harun Behr; Foto: picture-alliance/dpa/www.izir.de
Harry Harun Behr, 53, lehrt Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Islam an der Universität Frankfurt.

In diesem Sinne muss sich islamische Theologie grundsätzlich mit Phänomenen auseinandersetzen, die nicht auf die islamischen Traditionen verweisen, wohl aber auf muslimische Lebenswelten. Eine andere Frage sind die romantischen Fantasien von Mädchen, die die Terrormiliz IS unter anderem deshalb verherrlichen, weil sie ihnen als die beste Wahl erscheint, sich aus patriarchaler Unterwerfung zu befreien.

Vom substanziellen zum funktionalen Religionsverständnis

Hier liegt eine Aufgabe des islamischen Religionsunterrichts. Es hilft nicht, jungen Muslimen weiszumachen, all das Schreckliche habe nichts mit dem Islam zu tun, Gott sei eigentlich ganz lieb und Muhammad ein arabischer Nikolaus. Manches ist so verkehrt, dass nicht einmal das Gegenteil stimmt. Positive Vorurteilskonstruktionen werden von muslimischen Schülern ebenso abgelehnt wie die negativen.

Die Flucht in die plakative Gegenrede hilft ebenso wenig wie Vorzeigemuslime auf Prunksitzungen, weil das nur den Verlust an Normalität befeuert. Die spirituelle Verletzlichkeit treibt viele muslimische Jugendliche an, sich im Islam auch dann sachkundig zu machen, wenn sie gar nicht religiös sind. Sie suchen nach Antworten und wollen weder Predigt noch Bütt.

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Hier sind die neuen hessischen Kerncurricula für den Islamunterricht in der Sekundarstufe mutig. Sie verschieben den Regler behutsam vom substanziellen hin zum funktionalen Verständnis von Religion, denn sie legen es nicht auf religiöse Sonderprägung an, sondern auf religiöses Lernen als geistige Beweglichkeit in ästhetischer, spiritueller und analytischer Hinsicht.

Dass solches ausgerechnet mit Zustimmung zweier islamischer Gemeinschaften geschieht, die als konservativ verschrien sind, verblüfft nur auf den ersten Blick: Hessen ist bislang das einzige Bundesland, das ihnen religionsgemeinschaftlichen Status zugebilligt hat.

Sie müssen jetzt in die Schuhe hineinwachsen, in die sie sich gestellt sehen. Und deshalb erwarten sie Beistand von der wissenschaftlichen Theologie. Insofern ist die Rechnung des Ministeriums aufgegangen. Nun kommt es darauf an, mithilfe islamischer Theologie und Pädagogik die bessere Alternative gegenüber dem anzubieten, was sich im Abseits als vermeintlich wahrer Islam geriert. Erst dann ist das Zutrauen in das soziologische Universalmaß gerechtfertigt, dass sich Unfug langfristig nicht durchsetzt.

Harry Harun Behr

© Süddeutsche Zeitung 2016